Die 10 Brillen der Gruppen- und Teamdynamik
Die erkenntnisreichsten systemischen und gruppendynamischen Blickwinkel

Was lässt uns synchron schwimmen? Was treibt auseinander? Gruppen sind seltsame Wesen mit vielen Eigenarten. Sie lassen Intelligenz und Empathie entstehen und schrumpfen. Doch was genau in einer Gruppe entsteht und vergeht, ist nicht planbar. Wer sich mit Gruppendynamik beschäftigt, braucht vor allem eines: Eine differenzierte und differenzierende Haltung und gute Beobachtungsgabe. In diesem Beitrag stellen wir 10 gruppendynamische und systemische Brillen vor.
Bei den Hyänen herrschen klare Verhältnisse. Die Macht erhält die mit den besten Beziehungen. Das ist meist ein Weibchen. Das kollektive Verhalten dieses Herdentiers ist ganz auf Beziehungsmacht ausgerichtet.
Beziehungen sind auch bei Menschen entscheidend. Doch es kommt noch etwas hinzu: Die menschliche Sehnsucht nach Zielen, Sinn und Erfüllung. Das Vehikel dazu ist die Sprache. Sprache setzt Fantasien frei — ja, die gesamte menschliche Welt entsteht durch Worte. Gedankengebäude und Vorstellungswelten wachsen in teils schwindelnde Höhen, wenn Menschen zusammenkommen, die etwas bewegen wollen. Dabei schwingen kulturell getränkte Emotionen wie Hoffnung, Sehnsucht und Vertrauen mit. Und nicht etwa die Vernunft, ansässig im präfrontalen Cortex.
Darüber sollte sich jeder klar sein, der mit Gruppen arbeitet. Die laterale Führungsrolle schärft dabei ganz besonders den Blick. Denn wer ohne formale Macht interveniert, ist viel unmittelbarer mit ungebändigten Dynamiken konfrontiert.
Wer lateral mit Teams und Gruppen arbeitet, profitiert von unterschiedlichen Kompetenzen, vor allem aber von Prozesskompetenz.
Dies ist auch ein Schwerpunkt in unserem Ausbildungsprogramm TeamworksPLUS.
Die gruppendynamischen Kompetenzen lassen sich drei Gruppen zuordnen:
- Expertenkompetenz: Das anwendbare Fachwissen. In einem agilen Team beispielsweise die Kenntnis entsprechender Methoden. Nur, wenn ich weiß, was eine gute Retrospektive ist, kann ich diese erkennen.
- Prozesskompetenz: Die Fähigkeit, Prozesse als solche zu erkennen und gestaltend auf sie einzuwirken. Gestalten beinhaltet hierbei das Bewusstsein von sich selbst als größte Intervention.
- Sozialkompetenz: Vor allem Beziehungs- und Kommunikationsfähigkeit, aber auch Sprach- und Konstruktbewusstsein. Nur wer erkennt, dass Worte spalten und verbinden, kann diese nutzen.
Die nun folgenden Brillen ordnen wir alle der Prozesskompetenz zu. Sie helfen uns als Berater, Coaches und laterale Führungskräfte, auf Aspekte zu achten, die wir sonst nicht wahrnehmen. Daraus ergibt sich noch keine Handlung – aber die wichtigste Voraussetzung, unter der diese möglich wird. Denn bevor der Handlungskompetenz entsteht, wächst die Beobachtungsgabe.
Wichtig ist dabei unser Grundsatz “du selbst bist die größte Intervention”. Alles, was ich tue und alles, was ich lasse ist eine Intervention. Setze ich mich als Führungskraft auf den gleichen Stuhl wie die Teilnehmenden? Halte ich Abstand oder komme ich nahe? Stehe ich vor, neben oder hinter dem Team?
Als externer Beobachter gilt es, aus der Distanz auf das zu blicken, was sich zeigt. Gleichwohl hat allein die Anwesenheit schon eine Wirkung, ist keine Beobachtung wirklich neutral. Es gilt also immer auch, sich selbst zu beobachten. Was sehe ich, was nicht?
Je bewusster wir dabei Brillen aufsetzen, desto mehr füttern wir unsere Intuition.
Die 10 Brillen der Gruppen- und Teamdynamik
Die erste Brille: Melodie, Rhythmus und Takt spüren
Die Dynamik in Gruppen und Teams ist besonders und einzigartig — wie eine einzigartige Persönlichkeit. Am besten fühlt man sich da hinein – und schaltet den Ton aus. Wie schnell ist der Takt? Jagt er den eigenen Pulsschlag höher? Welche Emotionen löst er beim Beobachter aus? Welcher Rhythmus herrscht? Und wenn da eine Melodie erklänge, welche wäre das?
Fühlt man den Flow oder ist es holprig? Dieser „Ton-aus-Zugang“ ist oft lehrreicher als der über die berühmte „Teamuhr“ nach Bruce Tuckman, denn er schärft den Beobachtersinn.
Denn wenn wir den Phasenabschnitt „Performing“ (aus der Teamuhr Forming, Norming, Storming, Performing, Adjourning) als den Moment des Flows erkennen, werten wir diesen Zustand ganz anders als wenn wir durch die abstrakte Brille einer Uhr darauf schauen. Es wird uns auch neue und andere Erkenntnisse bescheren.
Die zweite Brille: Was ist das Verbindungsmuster?
In Gruppen sind weniger die Personen als vielmehr ihre Verbindungen interessant. Systemiker sprechen gern von Individuum-in-Gruppe. Die Gruppe assimiliert den Einzelnen.
Die Systemlogik der Gruppe lenkt das Verhalten. Persönlichkeit wird dabei weitgehend aus- und gleichgeschaltet. Es entstehen soziale Verbindungsmuster von unterschiedlicher Intensität. Wer beeinflusst wen? Wer redet viel mit wem, wer wenig? Was sind gegenseitige, was einseitige Beziehungen? Wo finden sich starke Verbindungen mit viel und engem Kontakt – wo schwache?
Welche Emotionen bestimmen die Verbindungen? Wer folgt wem – auch jenseits formaler Positionen? Wer steht nahe beieinander, wer entfernt? Wer umarmt sich, wer geht aus dem Weg?
Die dritte Brille: Wie stark ist das Gemeinsame?
Über die Entscheidung Gruppe und Team haben wir schon oft geschrieben. Teams sind eine besondere Form der kleinen Gruppe, die immer weniger als 9 Personen umfasst.
Das Team ist durch ein gemeinsames Ziel verbunden, das nur gemeinsam erreicht werden kann. Es organisiert sich zumindest weitestgehend selbst.
Ein Team ist fast wie ein eigener Körper, es bildet Eigenschaften aus, die die einzelnen Player nicht haben. Das gelingt durch eine hohe Ausdifferenzierung in den Rollen – und durch gegenseitige Unterstützung. Im Fußball ist klar, worum es geht, in Unternehmen oft weniger. Hier wird vielfach Team genannt, was eigentlich eine Gruppe ist. Weiterhin wird Team oft nur offiziell gedacht. Doch auch in der Graswurzel und der informellen Kulturinitiative bilden sich Teams.
Es lohnt sich genauer hinzuschauen und sich nicht vom Namen „Team“ täuschen zu lassen. Ist das ein Team? Sieht es sich selbst auch dann noch als eines an, wenn wir die Definition transparent machen? Wenn eine Skala von Gruppe zu Team führt, wo sehen sich dann die einzelnen Mitglieder dieses Teams? Und: Wer gehört wirklich dazu? Je informeller, desto unklarer.
Die vierte Brille: Welche Attraktoren halten zusammen – und trennen?
Werte zeigen sich im Handeln. Und jede Gruppe wie auch jedes Team bildet eigene Werte und Normen aus. Diese reduzieren Entscheidungsmöglichkeiten und schweißen zusammen, auch ohne dass sie ausgesprochen sind. Dienen diese dem Ziel der Organisation? Sind sie extraproduktiv für das Unternehmen? Oder laufen sie deren Zielen entgegen? Hier empfiehlt es sich, den Blick auch auf die Organisation zu lenken, die wie ein Rahmen für das Team ist.
Welche Energie ergibt sich aus dem, was die Gruppe anzieht? Mitunter landen wir da bei einer Clique. Das ist kein Team, sondern ein Verbund von Menschen, die ebenso ein gemeinsames Ziel, nämlich über etwas zu lästern oder etwas zu unterlaufen.
Wann beginnen zwei, drei Leute heimlich zu reden, wo findet etwas hinter dem Rücken der anderen statt? Und was zieht dabei an?
Die fünfte Brille: Was ist der Zweck des Ganzen?
Oft reden wir nur von Zielen, die Gruppen oder Teams erreichen sollen. Über Zwecke denken wir weniger nach. Diese haben aber eine enorme Bindungskraft. Die Frage ist dabei nicht wie vielfach irrig angenommen „warum gibt es uns“ sondern „wozu gibt es uns“?
Wozu gibt es dieses Team – wirklich? Ist der formulierte Zweck der echte? Aufgrund welchen Bedürfnisses hängen sich die Teammitglieder rein? Wo erleben sie Wirkung? Und: Welche Rolle spielt dabei, ob sie auf Dauer angelegt sind oder fluid? Im letzteres Fall sind sie nur für diesen einen Zweck existent — und lösen sich nach dessen Erreichen auf. Mit dieser Brille auf der Nase können Berater interessante Beobachtungen machen.
Die sechste Brille: Wie wirkt die Kohäsion?
Teams und Gruppen agieren in einem ständigen Balanceakt zwischen Bindung und Autonomie, Regeln und Regelfreiheit, Ich und Wir. Ihre eigenen Werte und Normen reflektieren sie im Idealfall offen – und zwar immer wieder. Doch wie stark bindet das alles? Wie ist die Kohäsion, der Zusammenhalt? Besteht zu viel Schwerkraft in der Kohäsion, birgt dies die Gefahr von Gruppendenken. Es ist nicht mehr möglich, eine andere Position einzunehmen, man wird gleichgeschaltet. Besteht dagegen zu wenig Schwerkraft, gibt es mehr Fliehkraft. Die Folge ist, dass zu wenig oder gar nichts gilt. Jeder kann z.B. kommen, wann er oder sie will. Es gibt kaum Zusammenhalt. Gibt es eine Balance oder kippt die Waage in die eine oder andere Richtung – und wodurch?
Die siebte Brille: Die Bewegungen im gruppendynamischen Raum
Der Begriff des gruppendynamischen Raumes geht auf Andreas Amann zurück. Seine Dimensionen haben Thorsten Visbal und ich in unserem Buch „Teams und Teamentwicklung“ für einen zunehmend agilen und virtuellen Kontext etwas verändert und um eine Dimension erweitert. Statt von Macht sprechen wir von Führen und Folgen.
Jede Dimension liefert im Grunde eine eigene Brille:
- Innen und außen: Wer gehört dazu, wer nicht? Ist der Product Owner, der mehrere Teams betreut, wirklich Teil des Teams? In und out sind nicht immer leicht zu beantworten.
- Führen und folgen: Wer entscheidet über etwas, wenn dies nicht an formalen Positionen hängt? Verteilte Führung bringt nicht nur einen hohen Kommunikationsaufwand mit sich, sie verlangt Leadership von jedem. Doch was macht das mit der Macht?
- Nah und fern: Wer steht wie zu wem? Gibt es Vertrauen untereinander? Wo besteht ein enger Kontakt, wo ein loser? Je nachdem, was die Aufgabe eines Teams ist, braucht es mehr starke Verbindungen nach innen (strong ties) oder schwache Verbindungen (weak ties) nach außen. Wo sind Kommunikationsschnittstellen, wo Störungen?
- Präsenz — hier und Jetzt oder nur Jetzt: Ob ein Team sich sieht oder nur virtuell verbunden ist, macht einen erheblichen Unterschied. Wer nicht den gemeinsamen Raum erlebt, hat ein schwächeres Empfinden und meist weniger Erinnerung. Noch gibt es kaum Forschung dazu. Klar ist jedoch, dass in der Virtualität eine wichtige Gruppen-Erlebensdimension verloren geht. Was beobachten wir bezogen auf diese Dimension?
Die achte Brille: Gibt es Spielfähigkeit?
Wir spielen dauernd. Wir lernen über Spiele. Das wissen wir spätestens seit der Psychiater Eric Berne die „Spiele der Erwachsenen“ zu einem Bestseller machte. Neues Verhalten braucht das Spiel. Damit ist nicht etwa ein Spiel im Rahmen der Teambildung gemeint, sondern das tägliche Spiel – etwa das „Agile-Methoden-Verwenden-Spiel“.
Spielfähigkeit ist ein von Gregory Bateson geprägter Begriff. Er lehnt sich an das Schauspielern an. Ein Schauspieler ist sich seiner Rolle bewusst. Er eignet sich Verhaltensweisen an, die nicht seiner Persönlichkeit entsprechen – und kann darüber reflektieren. Wenn die „Spielfähigkeit“ nicht da ist, bedeutet das, dass die einzelnen Teammitglieder nicht (mehr) in der Lage sind, sich in ihrer Rolle wahrzunehmen und das eigene Spiel im sozialen Kontext der Gruppe zu reflektieren. Sie sind mit ihrer Rolle verschmolzen.
Als Beobachter schauen sie auf die Reflexionsfähigkeit. Besonders interessant in agilen Kontexten ist deren Echtheit. Kommt die Reflexion von innen oder ist sie aufgesetzt?
Die neunte Brille: „Das, worum es auch noch geht“, erkennen
Im Tetralemma gibt es fünf verschiedene Positionen. „Das, worum es auch noch geht“ ist oft der Elefant im Raum, das Unausgesprochene. Als Element in einer Aufstellung ist es unbenannt.
Es ist meist nicht bewusst oder nur vorbewusst vorhanden. Seine Entdeckung kann oft einen Riesenschritt nach vorne bringen.
Beobachter erspüren dieses Element oft viel früher als die Gruppe. Beispielsweise kann ein Team sehr motiviert und engagiert an seinem Ziel arbeiten, aber um ein bestimmtes Thema macht man einen großen Bogen. Vielleicht hat es mit einer bestimmten Person zu tun, einem Verlust oder einem Geheimnis. In jedem Fall ist es höchst emotional.
Und fast immer löst seine Aufdeckung eine bis dahin gefesselte Energie.
Die zehnte Brille: Die systemische Ordnung sehen
In Gruppen herrschen Ordnungen, die sich aus systemischer Sicht ergeben. Es handelt sich um Grundannahmen, die von Varga von Kibed und Insa Sparrer formuliert sind. Und wie immer bei Grundannahmen gilt es diese nicht einfach anzunehmen, sondern zu überprüfen.
Diese sind:
- Recht auf Zugehörigkeit
- Vorrang des früheren vor dem späteren
- Vorrang des höheren Einsatzes oder der größeren Verantwortung für das Ganze
- Vorrang von Leistung und Kompetenz
Die Grundannahmen leiten weniger die Gruppe als vielmehr den Berater oder Prozessbegleiter. Sicher ist jeder schon mal zu dem Schluss gekommen, dass in einer Gruppe eben keine Leistungsorientierung Vorrang hat. Es gab ein Störgefühl, wenn man erzählt bekommt, dass da ein ehemaliger Bereichsleiter nun seiner Position beraubt im Nebenraum Zeitungen liest und bei Veranstaltungen nicht dabei ist.
Auch ist es sicher keine Seltenheit zu hören, dass das „Frühere“ negativ gesehen wird, weil das „Spätere“ cooler und moderner ist. Oder Leistung: Jeder kennt Teams, in dem die besonders Leistungsbereiten ausgegrenzt sind (siehe hier auch Brille 2).
Die Grundannahmen geben uns ein Brillenschema, das eine Beobachtung erlaubt.
Fraglos gibt es noch viele weitere Brillen. Mit ihnen lässt sich auch mit bestimmten Modellen auf die Gruppendynamik schauen. Hierzu empfehlen wir unsere unseren Beitrag über die wichtigsten Modelle der Teamentwicklung.
Mehr Hintergrundinformationen liefert unser Buch „Teams und Teamentwicklung“, gerade auch für Einsteiger in die Thematik. Wer tiefer einsteigen und Hintergründe verstehen will, dem empfehlen wir „Mitschwingen und dazwischengehen“ von Mechthild Erpendeck. Etwas praktischer gelagert ist das Buch von Eberhard Stahl „Dynamik in Gruppen“.
Beitragsfoto: Cottonbro — Pexels.com
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