Biontech/Pfizer: 7 Lektionen über die wahre Agilität

Die meisten hierarchischen Organisationen strampeln sich ab mit ihren Versuchen, agiler zu werden. Bei nicht wenigen ist das Wort „agil“ verbrannt. Nicht etwa, weil es jemals zu Agilität gekommen wäre. Nein, weil die nachhaltigen Bestrebungen zur Erhaltung des „status quo“ als agil bezeichnet wurden. Schade um das arme Wort.
Denn Agilität hat nichts mit den Methoden zu tun, die gern als agil bezeichnet werden. Es ist nichts weniger als die Fähigkeit einer Organisation auf Anforderungen zu reagieren – von Kunden, Bürgerinnen, der Politik oder der Gesellschaft. Was die Erfolgsfaktoren sind, zeigt derzeit eindrücklich die Geschichte des mRNA-Impfstoffs von Biontech und Pfizer. Andere Organisationen können davon viel lernen.
7 Lektionen über wahre Agilität haben es in sich:
Lektion 1: Der Kern von Agilität ist wissenschaftliches Arbeiten
Oft frage ich in meinen Kursen oder Keynotes, was denn der Wesenskern von Agilität sei, also das, was alles andere beeinflusst. Es kommen viele Antworten, aber selten die eine, die ich für die zentrale halte. Aus meiner Sicht geht es um Empirie, um wissenschaftliches Arbeiten. Es beginnt mit begründeten Thesen von Expertinnen, die Fachwissen und Fakten haben, Hypothesen aufzustellen. Und es endet nie, denn Hypothesen werden bestätigt oder verworfen, aber jede wissenschaftliche Arbeit endet mit einem kritischen Ausblick, was weiter erforscht werden muss. Das braucht ein growth mindset, das lernen will und sich nicht selbst bestätigen.
Pfizer installierte ein „Dare to Try“-Programm, um dadurch die Kultur zu beeinflussen und den Blick auf das Experimentieren zu legen. Es war klar, dass viele Initiativen starten müssten, was bei kreativen Prozessen wichtig ist. Und ebenso, dass das kein Selbstzweck ist, sondern jedes Experiment ausgewertet werden muss. Genau das tun viele Organisationen meiner Erfahrung nach nicht – sie wenden wissenschaftliches Arbeiten also nicht an. Solches Arbeiten hat in der Planungsorientierten BWL oft keinen Platz, vielleicht ein Grund, dass der Ansatz bei Naturwissenschaftlern leichter greifen kann. Immer noch halten sich viele Manager für „Praktiker“ ohne zu begreifen, dass es keine Theorie ohne Praxis und keine Praxis ohne Theorie geben kann.
Organisationen sollen hier ansetzen und zunächst vermitteln, wie man wirklich wissenschaftlich arbeitet.
Lektion 2: Purpose kommt von Menschen und dem eigenen Beitrag
Menschen helfen mit Leidenschaft anderen Menschen. Sie erkennen dann Sinn in ihrer Arbeit, wenn sie anderen helfen, einen Beitrag leisten können. Das weisen Studien immer wieder nach – es hilft, wenn Call Center Mitarbeiter sehen können, wem sie helfen.
Der Pfizer CEO Albert Bourla rechnete in geretteten Menschenleben, nicht in Umsatz oder Impfdosen. Alle wussten, Zeit war der entscheidenden Faktor. Aus diesem Antrieb leisteten die Menschen in der Organisation mehr als sonst. Im Home Office kamen sie schnell klar, weil sie vorher geübt hatten.
Vielen Organisationen fehlt ein echter Purpose. Sie konstruieren ihn also künstlich. Es ist aber nicht das Gleiche, ob ich als Mitarbeitende einen Beitrag zur Lebensrettung leiste oder eine Versicherung verkaufe. Der Blick auf Prozesse verstellt den Purpose komplett – deshalb muss er freigeschaufelt werden. Denn wenn Mitarbeitende wahrnehmen, dass sie eigentlich nur als Effizienzmaschinen gebraucht werden, wird die Instrumentalisierung überdurchschnitt. Agiles Arbeiten kann dann gar nicht greifen.
Lektion 3: Positive Psychologie mit Optimismus stärkt
Positive Führung wirkt auf die gesamte Organisation, negative auch. Positive Leadership bringt Energie und lädt auf. Eine einfach Frage reicht oft aus, den Unterschied zu erkennen: „Wie energetisch fühlen Sie sich nach einem Gespräch mit dieser Führungsperson?“
Bei Pfizer gab es diese positive Energie, was sicher nicht heißt, dass alle Mitarbeitenden immer glücklich und zufrieden sind und waren. Aber der kleine Kreis, der die Entwicklung vorantrieb, hatte Energie, das zu tun. Dabei halt auch der Blick auf den gemeinschaftlichen Erfolg. So haben viele Pharmafirmen in eine kooperative Kultur investiert. Jeder einzelne Mitarbeiter hätte beigetragen, sagt Bourla – nicht nur die Wissenschaftler. Biontech behandelte Bourla als Partner. Es gab anfangs – also bis November 2020 — keine Verträge, sondern nur einen guten Kontakt und einen kurzen Draht.
Organisationen unterschätzen die Bedeutung von positive Leadership. Da können noch so viele agile Methoden im Spiel sein – es wird rein gar nichts nutzen, wenn da keine positive Energie ist.
Lektion 4: Das Wohin muss eindeutig und klar sein
Führung heißt Richtung geben, der Kurs muss sonnenklar sein. Der entscheidende Faktor bei dem Projekt war die Zeit, es gab keine Budgetvorgaben, keine Pläne, welche Gewinne mit dem Impfstoff erzielt werden könnten, sagt Bourla. „Was uns antrieb war unsere Mission.“ Die war leitend auch wenn die Innovation gar nicht aus dem eigenen Haus kam. Das Handschlagversprechen mit Biontech war nur möglich, weil keiner rechnete und berechnend handelte.
In vielen Organisationen ist das Wohin denkbar unklar. Es gibt Doppelbotschaften und Zweifel daran, dass die offiziell ausgegebene Richtung wirklich so gewollt ist. Außerdem wirken die Richtungsvorgaben oft künstlich und unauthentisch, weil die Führungspersonen sie nicht leben. Ein Rohrkrepierer für Agilität. Beginnen Sie also damit, Klarheit zu schaffen, konsequent zu sein, Entscheidungen zu treffen, die in die eine Richtung weisen. Die darf für die Belegschaft nicht im Nebel liegen.
Lektion 5: Es braucht eine narzissmusarmen Kapitän*in
Wo geht es lang? Erfolg ist immer Teamerfolg, aber Menschen wollen den oder die eine. Sie wollen jemand, der das alles verkörpert. Nur wenn dieser eine an der Spitze ein wirklich gutes Team hat, lassen sich langfristige Erfolge sichern. Ein gutes Team macht selbst aus weniger charismatischen Persönlichkeiten jemanden, der nach außen strahlt. Diesen Effekt muss man kennen und nutzen.
So eine Person muss Menschen lieben, die die Wahrheit sagen. Adam Grant spricht in seinem Buch davon, dass das oft Leute mit einer niedrigen Verträglichkeit in den Big Five sind – Persönlichkeiten, die schwieriger sind, weil sie mit ihrer Meinung nicht hinterm Berg halten. Narzisstisch geprägte Menschen lassen solche Persönlichkeiten nicht durch.
Es geht also darum, dass gute Betas Alpha stärken müssen, damit alle das Ziel erreichen. Macht und Machtfülle sind wichtige Voraussetzungen, die Veränderung erst ermöglichen.
Gleichzeitig muss die Macht gerichtet eingesetzt werden – und darf nicht missbraucht werden kann. Dafür braucht diejenige mit der Macht klare Leitlinien. Narzissten wiederum müssen frühzeitig identifiziert werden und dürfen keine Karriere machen.
Das haben einige Organisationen, die agiler werden wollen, nicht verstanden. Sie beschäftigen sich oft gar nicht mit Narzissmus und sehen nicht, dass viele im agilen Deckmantel narzisstisch agieren – etwa indem sie nur Gleichgesinnte um sich scharen.
Lektion 6: Weniger ist mehr, aber es braucht mehr Ideen
Wir brauchen weniger – und mehr. Weniger Prozesse und Bürokratie: Viele agile Entscheidungen sind eine Entscheidung für mehr: Mehr Rollen, Linie und Ablauf. Mit dem weniger tun sich die meisten dagegen schwer. Doch es muss um weniger gehen, denn nur das bringt mehr Konzentration. Immer Montags und Dienstags trafen die Wissenschaftler von Pfizer zusammen. Daneben gab es adhoc-Meetings. Der Austausch war zielgerichtet, denn es stand ja nur eins auf dem Plan. Bei den Ideen geht es genau andersherum. Im Frühjahr 2020 stellen Bourla und den Top-Managern mehrere Teams ihre Lösungsvorschläge vor. „So wurde es immer gemacht. Wir baten um die vierte, fünfte und sechste Idee. Und kreativ wie sie waren, lieferten sie.“
Meetingkultur ist Organisationskultur. Nirgendwo zeigt sich wirklich so sehr, wie eine Organisation wirklich tickt. Ringt man um gute Ideen wie bei Pfizer? Oder ist der Blick auf Methoden und Prozesse gerichtet wie in manch einem „agilen“ Team?
Lektion 7: Brückenbauen statt Tunnelblick
Den großen gesellschaftlichen und weltpolitischen Auftrag, einen rettenden Impfstoff zu entwickeln, nahmen viele Unternehmen an. Bourla telefonierte dabei mit seinen vermeintlichen Wettbewerbern, beispielsweise bot er Gilead Sciences die eigenen Produktionskapazitäten an, als diese mit Remdesivir als Hoffnungsträger galten. Mit dem Chef von Johnson & Johnson verpflichtete er sich unternehmensübergreifend strenge wissenschaftliche Kriterien und Sicherheitsstandards einzuhalten.
Auch andere Organisationen gehen zunehmend übergreifende Kooperationen ein, auch da sie wissen, dass bestimmte Herausforderungen nicht zu nehmen sind.
Dies erfordert Vertrauen darin, dass von gesellschaftlich relevanten Lösungen, am Ende alle profitieren. Damit definiert Agilität eben auch ein neues Paradigma, denn im Gewinndenken ist das nicht vorgesehen.
Organisationen sollten ihre eigenen Grundannahmen überdenken, auch dabei hilft an der Wissenschaft orientierte Vorgehensweise.
- Die Aussagen von Bourla stammen aus dem Beitrag “Der Weg zum Impfstoff” von Albert Bourla im Harvard Business Manager Juli 2020, S 52 ff. Weitere Infos: Eigene Recherche.
Die Stellschrauben für Agilität sind also andere als viele denken. Warum nicht mal mit einem Training in wissenschaftlichem Denken anfangen? Wir bei Teamworks setzen in unseren Ausbildungen schon lange darauf. Wir investieren viel, damit unsere Teilnehmer*innen in die Lage versetzt werden, Hypothesen für Interventionen zu bilden und die Grundlage für Lernen schaffen können.
- Zum Thema Agilität und speziell “Postagilität” habe ich auch einen Gastbeitrag bei Stefan Scheller “Agilität: Das große Missverständnis — Zeit für Postagilität”.
- Zum Thema auch ein Podcast bei “Klartext HR” und direkter Folgen-Abruf bei Spotify
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