Coaching in der Transformation: Was ein agiler Coach macht — und was er besser nicht tun sollte

Ist Coaching immer absichtslos und ist absichtsvolles Coaching — wie im agilen Kontext oft erwartet — überhaupt Coaching? Das neue Berufsbild, das keines ist, wirft viele Grundsatzfragen auf. Nicht nur in unserer Ausbildung.
Soeben ist unser viertes Modul TeamworksPLUS mit der sechsten Gruppe erfolgreich gelaufen (7 ist ebenso am Start), ein Thema: Coaching im Kulturwandel. Ich sitze im Zug nach Salzburg und habe Zeit meine Gedanken zu diesem Thema zu sortieren und aufzuschreiben.
Als einen Arbeitsauftrag im Zusammenhang mit „Double Loop Coaching“ hatten Thorsten und ich am zweiten Ausbildungstag unserer Gruppe formuliert „coache einen Elefanten in Richtung Agilität“. Mit Elefanten meinten wir einen Bereichsleiter, der das Thema nicht richtig versteht bzw. verstehen will. Das löste eine heftige Diskussion aus, die ich fruchtbar und wichtig fand. Denn sie zeigt, welche unterschiedlichen Vorstellungen das Wort „Coaching“ auslöst, auch wenn man es definiert hat.
Fragen waren:
- Darf man jemand ungefragt coachen? (Antwort: Nein, wenn es um einen Coachingprozess geht — aber ja, wenn man Coachingtechniken zur Überzeugung nutzt, etwa eine paradoxe Intervention)
- Aber auch: Darf man die Absicht haben, etwas zu erreichen, selbst wenn es ein Coachingprozess wäre.
- usw.
Ist Coaching absichtslos und kann agile Coaching dann absichtsvoll sein?
Der Teufel steckt eben nicht im Detail, sondern in der emotionalen Aufladung des Begriffs. Gilt Coaching doch gerade in Deutschland als „absichtslos“. Und ist das in den Köpfen jener besonders fest verankert, die dies so gelernt haben, ohne über den Begriff Absichtslosigkeit tiefer nachzudenken bzw. ohne auch die kulturelle Dimension zu betrachten.
Schauen wir doch mal genauer hin:
- In den USA ist das, was wir als Coaching ansehen, eher Counseling und Coaching oft eher Training. Darüber habe ich mir vor einigen Jahren hier die Finger wund geschrieben. Und ich bin nach wie vor der Meinung, dass Counseling nicht ohne Grund in einigen Ländern nur Leuten erlaubt ist, die Psychologische Kenntnisse haben.
- Das Systemische wird meines Wissens auch nur bei uns von uns als allein heilbringend definiert und so eng mit Niklas Luhmann verknüpft, der doch eigentlich nur eine soziologische Systemtheorie geschrieben hat. Die Mühe hinter dieses Konstrukt zu schauen, macht sich so gut wie keiner. Auch hierzu gibt es einige Frühwerke von mir, etwa hier.
Wer angestellt ist, ist auch verpflichtet – aber auch der freie Coach ist nie frei
Über diese unterschiedliche Auslegung und emotionale Begriffsfüllung hinaus stellt sich mir die Frage: Kann der Angestellte eines Unternehmens überhaupt absichtslos agieren? Ich meine: Nein, das kann er nicht. Er hat einen Arbeitsvertrag, er ist damit dem Unternehmen verpflichtet. Selbst wenn er, angenommen ein Grundeinkommen setzte sich durch, freiwillig in solchen Rollen agierte, bliebe er doch absichtsvoll, denn hinter seinem Tun verbirgt sich dann vermutlich ein Anliegen, neudeutsch Purpose. Aber auch der freie Coach ist nicht frei, denn er muss Geld verdienen. Das zwingt ihn oft noch mehr in die Knie der Anpassung als den Angestellten, denn mit zu viel Klarheit ist er auch schnell weg vom Fenster –vor allem, wenn er nicht sehr etabliert ist oder nur wenige Kunden hat.
Wenn Absicht mehr ist als Pflichterfüllung braucht es Haltung
Das Gesagte gilt selbst, wenn der agile Coach kein Teil des agilen Teams ist – wie wir dringend empfehlen. Bleiben wir in der derzeitigen Arbeitswelt, in der wir gewöhnlich einem Arbeitgeber oder Kunden verpflichtet sind, der uns Geld dafür gibt: Die Absicht ist dann bei selbstbewussten Charakteren mit innerer Überzeugung nicht unbedingt nur Pflichterfüllung, sondern kann auch weit darüber hinausgehen.
In der Arbeitspsychologie gibt es den Begriff des extraproduktiven und des kontraproduktiven Verhaltens. Kontraproduktiv wäre es, wenn ein Coach nur seinen eigenen Überzeugungen oder auch Interessen folgt. Extraproduktiv dagegen, wenn er oder sie über die momentane Arbeitsanforderung im Sinne des Unternehmens hinausdenkt und ‑handelt.
Ethisches Bewusstsein schafft Dilemma-Fähigkeit
Das setzt in jedem Fall voraus, dass der Coach ethisch abwägen kann. Auf der Verhaltensebene zeigt sich das meiner Ansicht nach am deutlichsten am fruchtbaren Umgang mit Dilemma-Situationen. Dilemma-Situationen sind dadurch gekennzeichnet, dass es kein richtig oder falsch gibt; es ist die Entscheidung zwischen Teufel und Beelzebub. Jede Entscheidung verlangt ethisches Abwägen. Ob die Folge dann moralisches Handeln ist oder ein Handeln im Sinne der Organisation, ist das Ergebnis dieses Abwägungsprozesses. In diesem Video habe ich diese Fähigkeit als die Entscheidende präsentiert.
Für mich ist es die logische Konsequenz praktischer Erfahrungen mit agilen Coachs, agilen Mastern und anderen Transformations- und Change-Betrauten, die in der Praxis immer wieder beim selben Konflikt landen, sofern sie sich nicht als Einpeitscher agiler Verhaltensweisen verstehen. Aber selbst dann, kommt es in „Phase 2“ und „Phase 3“, wie ich es nenne, oft zu einem Wandel.
Zu den Phasen der Entwicklung des Berufsbildes “agiler Coach”:
- „Phase 1“ ist die Phase, in der Unternehmen erkennen, dass sie jemanden für agiles Arbeiten brauchen. Hier denken die meisten rein auf Teamebene, deshalb ist es vergleichbar mit der Flughöhe 1 bei Klaus Leopold. Die Grenzen sind schnell erreicht, typischerweise engagiert man „Tooligans“ und Leute mit Zertifikaten im Scrum-Bereich. Scrum Master und agile Coachs sind identisch, oder mehr oder weniger identisch.
- In „Phase 2“ steigt der Anspruch, oft weil ordentlich Porzellan zerschlagen wurde. Nun braucht man mehr richtiges Coaching, oft auch im Sinne der Fähigkeit zur Teamentwicklung und Konfliktmoderation. Da merken dann viele, dass das niemand kann, der Teil des Teams ist und dass Agile Coachs auch aus dem HR-Bereich kommen können und nicht notwendig ehemalige Entwickler sein müssen.
- Das entspricht der Flughöhe 2 bei Klaus Leopold, auf der wir auch die Schnittstellen einbeziehen, was die Komplexität der Kommunikation noch mal erhöht. „Phase 2“ bringt die Erkenntnis, dass es so wie bisher nicht weitergeht. Grund ist nicht selten, dass ein „Prügelcoach“ im Scrum-Master-Gewand das Team völlig durcheinander gebracht hat. Sein Bruder oder seine Schwester, der Sozialarbeiter-Missionar-Coach, macht es auch nicht viel besser, denn er/sie will, dass es allen gut geht.
- Wer sich mit Transaktionsanalyse beschäftigt hat, erkennt hier zwei Varianten des Eltern-Ichs – das fürsorgliche und das kritische. Aus diesen Positionen heraus fördert niemand Selbstorganisation, sondern manifestiert die Kind-Haltungen der Mitarbeiter. Diese wählen dann die rebellisch-bockiger oder angepasste Position, die in der TA zwei Seiten derselben Medaille kennzeichnen. „Warum erreiche ich manche Leute nicht“, fragen sich dann die einen, während die anderen gar nicht reagieren, da sie typischerweise den Zugang zu eigenen Emotionen verloren haben.
- „Phase 3“ haben derzeit nur extrem reife Unternehmen und Teams erreicht. Hier ist Coaching und auch das Berufsbild hinter dem agilen Coach dekonstruktiv, das bedeutet der Coach und die Organisation sind in der Lage, ihr Konstrukt zu Coach zu erkennen und neu zu gestalten. Das zu denken, ist ein Kraftakt wie wir immer wieder merken. Zu fest sind gewachsene Vorstellungen, zu sehr ist ein festes Bild handlungsleitend.
Neulich überflog ich einen Artikel in den Manager Seminaren, auf den mich eine Workshop-Teilnehmerin aufmerksam gemacht hatte. Da war die Rede von agilen Coaches, die aufgrund von Hypothesen agieren und die agilen Werte im Sinne der Organisation einprügeln. Gut – „einprügeln“ stand da nicht, aber der Beitrag war aus einer Grundannahme geschrieben, dass es jemand geben könnte, der einem anderen Werte „drüberzieht“.
Werte sind kein Überzieher, sondern tief verankerte Handlungsimpulse
Das ist aus psychologischer Sicht nicht möglich. Beispielsweise sind Werte recht früh angelegt und nicht so einfach änderbar. Sie setzen Handlungsimpulse. Unterdrückt führen sie zu Unzufriedenheit. Werte lassen sich deshalb auch nicht einfach austauschen. Sie sind zudem immer mit emotionalen Markierungen verzahnt. Veränderung ist nur über den Prozess einer Bewusstwerdung von sich selbst möglich, will man den autonomen, selbstbestimmten und aus sich heraus handelnden Menschen und keine Maschine (andernfalls wären wir keine Demokratie mehr und der humanistische europäische Gedanke wäre auch ad absurdum geführt).
Search inside yourself
Ich bin sehr froh, dass durch Bücher wie „Search inside yourself“ des Ex-Google-Mitarbeiters Chade Men Tan diese Themen auch bei Menschen ohne psychologische Kenntnisse ankommen, so platt und reißerisch ich die (An-)Sprache in Tans Buch auch finde. Es ist für Ingenieure geschrieben, für die der Gedanken neu ist, dass Gefühle, Gedanken und Verhalten miteinander verzahnt sind und ein fehlender Zugang zu Gefühlen automatisches Verhalten verursacht. Für eine Zielgruppe also, für die entsprechend auch neu ist, dass Achtsamkeit, Meditation und Reflexion helfen, die Verbindung von Körper, Geist und Seele wiederherzustellen. Und die oft verwundert sind, dass genau das Persönlichkeits- und Führungsstärke ausmacht.
Rollenbewusstsein über die Rolle hinaus
In der Ich-Entwicklung nach Jane Loevinger ist die Ausbildung von Rollenbewusstsein ein Entwicklungsthema der postkonventionellen Ebene. Wenn ich bewusst verschiedene Rollen einnehmen kann und diese kontext- und situationsabhängig ausfüllen kann, erreiche ich mehr. Ein agiler Coach ist in seinen beruflichen Rollen manchmal Kollege, Berater, Trainer, manchmal Coach und manchmal auch einfach ein Mensch, der bei Hitze schwitzt und deshalb weniger performt. Über Haltung und Rolle des agilen Coachs können Sie hier mehr erfahren.
Absichtslosigkeit führt zu Klarheit, aber auch Fähnchen-im Wind-Verhalten
Allein seine Rolle beeinflusst andere, ebenso sein Aussehen, der Name, die Art der Präsenz und das, was der andere über ihn weiß oder nicht weiß. Das muss ihm bewusst sein, damit er damit umgehen und es situativ nutzen kann. Absichtslosigkeit kann es schon deshalb gar nicht geben; sie wäre eher hinderlich. In jeder Situation muss ein Coach sich seiner Rollen bewusst sein und sich immer wieder entscheiden, woran er sich ausrichtet:
- Stellt er das Team in den Vordergrund oder den Einzelnen?
- Oder die Organisation?
- Möglicherweise sogar etwas Höheres, den Purpose der Organisation und noch weitergedacht, den gesellschaftlichen Nutzen, den ein Unternehmen stiftet?
- Oder gar humanistischen Sinn im Sinne von Frank, der positiven Psychologie oder von Kant? (was grundlegende Unterschiede erzeugen würde)
- Möglicherweise auch das Machbare, das situativ zum Kontext Passende, im Bewusstsein, was Menschen in diesem Kontext weiterbringt, obwohl er woanders ist?
Sie merken schon: Der Coach wird je nach eigener Orientierung ganz unterschiedlich wirken und wirksam sein. Vor allem aber wird er mit zunehmender Ich-Reife zugleich die Orientierung behalten und geben können. Orientierung zu geben kann jedoch nie absichtslos sein. So unlogisch das auf den ersten Blick sein mag: Es setzt eine stärkere innere Orientierung voraus, diese nach außen geben zu können.
Agile Coach Trainer oder Agile Coach Coach?
Das macht sich auch und gerade in Gruppen bemerkbar: Während der Typ “Trainer Agile Coach” den Raum füllen muss, kann der “Agile Coach Coach” Raum geben, da er sich vor Störungen und Ungeplantem nicht mehr fürchtet.
Das ist auch lernpsychologisch entscheidend: Je weniger äußere Struktur, desto größer muss die innere sein. In den „Three orders of Learning“ nach der australischen Professorin Lina Markoskaite ist das gut beschrieben:
- In der 1. Ordnung des Lernens geht es um Teaching and Telling. Im Zentrum steht Lernen als Aneignung von Wissen oder/und von Methoden. Das ist sinnvoll, wenn solange es um konkrete Inhalte geht.
- In der 2. Ordnung des Lernens geht es um „Learning as Facilitation“, also der Befähigung von anderen. Das Design muss dabei die Erfahrungen der Lernenden in den Mittelpunkt stellen.
- In der 3. Ordnung des Lernens steht Co-Configuration im Mittelpunkt, bei der es auch um die Fähigkeit zur Dekonstruktion von bisher Erfahrenem geht. In einem kreativen Prozess wird das bisher erlebte und gelernte auf eine neue Ebene gestellt. Das könnte man auch Co-Kreation nennen. Dieser Prozess ist für den Coach der Anspruchsvollste. Ich würde behaupten, dass nur sehr wenige Moderatoren oder Coachs wirklich in der Lage sind, derartige Prozesse zu moderieren (oder meinetwegen: zu coachen).
Unserer Erfahrung nach sind derzeit mehr als 90% aller Unternehmen mit ihrem Lernen in der ersten Ordnung unterwegs und so sind auch die Stelleninserate für „agiler Coach“ formuliert. Ich habe mir einige angeschaut und ein positive Ausnahme sah ich bei Axel Springer.
Einige Ausschnitte aus einem Inserat aus 6/2019:
“(…) we believe that united strength ist the foundation of our collaboration.“ Bezogen auf die Tätigkeit: „In the role as agile coach you can become the core of our development process and help us to find our blind spots (…)“.
Ob Axel Springers künftiger Agile Coach das so verkörpern und leben kann, weiß ich nicht. Wer hier am Anforderungsprofil mitgewirkt hat, zeigt aber jedenfalls tieferes Know-how als die meisten anderen.
Fazit zum Berufsbild Agiler Coach
Das Berufsbild des „agilen Coaches“ ist neu und unklar. Es wird sich diversifizieren, beispielsweise in Trainer, Moderator und “echter” Coach, wahrscheinlich entlang der Ordnungen des Lernens. Organisationen, die ihn mit dem Scrum Master in einen Topf werfen, werden schnell die Grenzen merken. Sie werden dann erkennen, dass es eine separate Position braucht und hoffentlich auch, dass er direkten Zugang zum Management braucht und zwar nicht nur zum Personalleiter.
Dabei wird mehr und mehr klar werden, dass die Ausbildung der meist aus Informatik oder Ingenieurwesen stammenden Agile Coaches nicht ausreicht und auch eine Coachingausbildung kein Beweis für die Fähigkeit ist, mit Einzelpersonen und Gruppen in zweiter oder dritter Ordnung ist, braucht es dafür doch auch gruppendynamische Kenntnisse.
In unserer Ausbildung TeamworksPLUS arbeiten wir auf allen drei Ebenen und im Schwerpunkt auf der zweiten. Immer wieder bieten wir aber auch dekonstruktive Elemente aus der 3. Ordnung, vor allem auch in Kursen wie Agiles Mindset, Psychologie der Veränderung sowie dem neuen Kurs Mindful Agility. Hier finden Sie aktuelle Termine.
Beitragfoto: Shutterstock — ASDF_MEDIA
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