Extended Mind und Resonanz: Warum wir andere brauchen, um Selbst zu werden

Wo sind Ihre Grenzen, wo hören Sie auf zu sein? Wo ist das Ende Ihres „Ichs“ – und wo beginnt das Du und das Wir? Könnte sogar Ihr iPhone ein Teil Ihrer selbst sein, weil es so viel über sie weiß? Weil Sie sich mit ihm weiterentwickeln? In diesem Beitrag geht es um das Extended Mind, den erweiterten Geist, der uns mit anderen Menschen, aber auch Maschinen verbindet. Teamarbeit ist dabei eine besondere Form des Extended Minds — wenn wir uns auf sie einlassen.
Wir hängen alle zusammen und voneinander ab. Der Mensch hat keine direkten Grenzen. Die Extended Mind-Hypothese begründeten die Philosophen David Chalmers und Andy Clark 1998 in einem Aufsatz, der weitreichende Aufmerksamkeit erhielt. Die These war ebenso einfach wie revolutionär: Der Mensch lässt sich durch Technik erweitern, sein Geist spielt sich nicht nur im Gehirn ab. Doch sie greift zu kurz. Der Mensch erweitert sich auch durch andere, signifikante Andere. Das sagt der Psychiater und Neurowissenschaftlers Joachim Bauer, und ich halte es für eine sehr treffende Analyse. So wie ich den Gedanken einer lediglich technischen Erweiterung für zu kurz gesprungen halte.
Nach George Herbert Mead, einer der einflussreichsten psychologischen Denker des 19. Jahrhunderts, sind signifikante Andere für ein Kind Eltern und direkte Bezugspersonen, aber später auch alle, in denen wir uns spiegeln. Und wo spiegeln wir uns mehr als in den Kollegen auf der Arbeit? In Vorgesetzten und Mentoren?
Wir haben keine festen Grenzen zu anderen Menschen
Das Ich erfährt sich nur in der Resonanz durch andere. Diese Sicht gibt der ursprünglichen — philosophischen und kognitionswissenschaftlichen — Theorie der dinglichen Erweiterung eine andere Wendung und neue Note.
Resonanz durch andere
Ein Baby hat keinen entwickelten präfrontalen Cortex, es kommt auf die Welt mit nichts als der Möglichkeit zu werden. Diese Möglichkeit entfaltet es durch Resonanz, die auf Spiegeln basiert. Spiegelneuronen spielen dabei eine zentrale Rolle. In seinen ersten Lebensmonaten ist das Kind verschmolzen mit seiner Mutter, erst langsam entdeckt es das Du. Es versteht: Ich bin nicht der andere.
Auch die weitere Entwicklung ist gekennzeichnet durch Resonanz, die ein Mensch von anderen Menschen bekommt. Wir können nicht sein, ohne die dauernden Reaktionen auf uns. Feedback ist kein initiierter Prozess, es ist dauern da und durch die Art und Weise, wie andere auf uns reagieren und wir auf sie, in jeder Sekunde gegeben. Die anderen sind also in uns, ob wir das zulassen möchten oder nicht.
Erweiterung durch Dinge
Möglicherweise sind wir aber eben auch Dinge und Maschinen, die unseren Geist erweitern. Das glaubten Chalmers und Clark, deren Theorie entstand, als es noch Notizblöcke gab. Ich habe ihr damaliges Beispiel zeitgemäß angepasst: Stellen Sie sich vor, Ihr Freund Otto leidet an einer Gedächtnisstörung. Otto hat immer einen Ipad bei sich. Dieser Ipad enthält alle Informationen, an die Otto sich erinnern muss. Angenommen, er möchte eines Tages eine Ausstellung besuchen, kann sich aber nicht an die Adresse erinnern, das iPad aber kann es. Die Grenzen von Otto sind damit fließend. In nicht allzu ferner Zukunft reicht vielleicht sein gedankliches Fragezeichen, damit Otto die Adresse zugespielt oder vielmehr aufgespielt wird. Die synthetische Biologie forscht an diesen Dingen.
Mensch-Maschine
Schon jetzt weiß mein Iphone, ohne dass ich es ihm gesagt hätte, dass ich zur Arbeit fahre. Es schließt das einfach aus der Häufigkeit mit der ich in die Ferdinandstraße in Hamburg fahre. Es kennt meine Gedanken, meine Bilder, die Ausschnitte aus Büchern, die ich bemerkenswert finde, denn diese fotografiere ich. Das Verlieren wäre ein Verlust, aber Gottseidank rettet die Cloud. Das Bild des digitalen Bestatters als Zukunftsberuf, wie neulich im Fokus gefunden, ist nicht absurd, wenn man diese Dinge weiterdenkt. Wir sind nicht nur die anderen, die wir in uns aufnehmen, wie die Sicht auf das Extended Mind von Bauer zeigt. Wir sind zudem nicht nur unser Gehirn, nicht nur unsere Körper — wir sind auch jetzt schon Maschine.
Wir erstrecken uns in die Umwelt
Vertreter des „erweiterten Geists“ wie es auf deutsch heißt, behaupten, dass sich kognitive Systeme über den gesamten Körper des Wesens und auch in die Umwelt hinein erstrecken können. Es muss nur eine Kopplung mit dem Kernsystem geben, mit dem Gehirn. Diese Kopplung entsteht dauernd, wenn wir andere in uns aufnehmen, deren Gedanken, deren Sicht auf uns, unsere Sicht auf sie. Teamarbeit findet in einem Resonanzraum statt: Ein gutes Team ist offen für alle seine Mitglieder, alle können sich erweitern. In einem schlechten Team schotten die Mitglieder ihre Minds ab, sie meinen nur sie selbst zu sein und verkleinern den Resonanzraum. Auf dem Prinzip solcher Resonanz basiert auch der Dialog nach Bohm, wie in das Agile Mindset (2018) vorgestellt. Auch in Claus Otto Scharmers Theorie spielt sich ganz klar der Resonanzgedanke.
Alles wird und wir sind, weil andere es uns zeigen
Für Bauer gibt es keine Persönlichkeit, die fest angelegt ist. Es ist alles im Werden, es entsteht durch die signifikanten Anderen, die uns beeinflussen und uns zeigen, dass wir sind und wer wir sind. Die signifikanten Anderen, etwa die Eltern in den frühen Lebensjahren und später die Chefs, Kollegen und Freunde, sind für uns wie eine externe Leitstelle. Ohne sie wären wir nichts, wir hätten keine Spiegel. Werden, Persönlichkeitsentwicklung wie Teamentwicklung ist aber ein Prozess der Spiegelung. Spiegelung und Resonanz sind die zentralen Treiber von Entwicklung. Das menschliche Selbst entsteht nur dadurch, dass es sich in anderen erkennt. Es ist, weil andere da sind.
Der signifikante Andere als Extended Mind
Der bedeutsamste „extended mind“ des Menschen ist damit nicht das Ipad, sondern der andere Mensch. Resonanzen beeinflussen unser Selbst über die Kindheit hinaus, wir werden lebenslang von ihnen adressiert und verändern uns dabei ständig weiter.
Bauer vergleicht den Menschen mit der Erde:
Ohne die atmosphärische Hülle, die unsere Erde umgibt, gäbe es auf dieser Welt kein Leben. Auch jeder Mensch hat eine Hülle. Zwischen den Entstehungsbedingungen der Erdatmosphäre und der Entwicklung dessen, was die Hülle einer Person, ihr „Selbst“ oder ihr „Ich“ ausmacht, bestehen einige Parallelen. Als unser Planet entstand, fehlte ihm die Hülle aus Sauerstoff und Stockstoff, die ihn heute umgibt. Dass auch der Mensch am Beginn seines Lebens ohne eine schützende Hülle (…) das Licht der Welt erblickt, war eine unter Psychologen – insbesondere Psychoanalytikern – schon länger gehegte Vermutung.
Kinder, die zu wenig Resonanz erfahren haben, schützen sich, indem sie sich abschotten.
Erst vor wenigen Jahren entdeckten Neurowissenschaftler Selbst-Netzwerke, die im Stirnhirn sitzen, im präfrontalen Cortex also. Diese Region entwickelt sich erst in späteren Lebensjahren. Ein weiterer Beweis dafür, dass das Selbst entsteht. Damit es Werden kann, damit sich Möglichkeitenräume von einzelnen Menschen und Teams entfalten, braucht es Sonne im Sinne zwischenmenschlicher Beziehungen — ein Leben lang.
Empathie — Folge von Resonanz-Erfahrung
Wir Profis in Team- und Organisationsentwicklung wissen, wie wichtig es ist, sich in andere hineinzuversetzen. Es ist die Voraussetzung für wirksame Zusammenarbeit. Kooperation wird erst dadurch möglich. Doch viele Menschen haben zu wenig Sonne bekommen. Sie verschanzen sich hinter etwas, das sie für sich selbst halten und meiden die Spiegelung, etwa indem sie Feedback ausweichen oder konfliktäre Situationen meiden.
Die neurobiologische Grundlage für die Fähigkeit des Menschen zum Perspektivwechsel sind im präfrontalen Cortex beheimatete Strukturen. Empathie, eine der wichtigsten Zukunftskompetenzen, ist vor allem auch eine Folge des Vermögens, in die Haut des anderen zu schlüpfen, indem ein Erleben mit Selbsterfahrung abgeglichen wird. Doch viele Menschen haben nie gelernt, dies zu tun. Sie hatten zu wenig Spiegelung, also spiegeln sie sich selbst, ohne sich zu finden. Und Narziss ertrank.
Wenn Menschen sich bemühen, die innere Welt Anderer zu verstehen, werden Gehirn-Netzwerke aktiviert, die das innere Bild der eigenen Person gespeichert haben. Dies ist die so genannte „Self-Projection“. Wer das geübt hat, kann etwas finden und abgleichen. Wer nicht, flüchtet dagegen in die Self-Protection.
Die Extended-Mind-Theorie lehrt uns, dass das Selbst nichts anderes ist als ein Bindeglied zwischen sozialen Erfahrungen und dem Körper sowie seiner, auch dinglichen und technologischen wie auch möglicherweise bald biologischen Erweiterungen. Persönlichkeit ist damit ein Werde-Prozess. Das bei uns integrierte Modell der Ich-Entwicklung fügt sich sehr gut in diesen Gedanken, ebenso wie systemische Ansätze. Er passt weniger zum Determinismus.
Was ist der praktische Wert der Extended-Mind-Theorie?
Viele Schwierigkeiten in der Transformation gehen darauf zurück, dass Menschen elementare Fähigkeiten nicht gelernt haben, da sie zu wenig Resonanz und Spiegelung erfahren haben. Sie sind emotional verkümmert. So hat manch hochdotierter Manager und manch hochspezialisierter Experte in Wahrheit die Fähigkeit zu Resonanz nie wirklich erworben. Das ist daran erkennbar, dass Menschen ohne Einklang mit sich selbst Inhalte abspulen und sich nicht in andere versetzen können.
Nicht wenige brauchen letztendlich das, was Psychologen „Nachbeelterung“ nennen. Sie müssen ihre Persönlichkeit erst entwickeln, weil sie steckengeblieben sind. Das betrifft vor allem auch die, die auf der Suche nach dem eigenen Kern oder den eigenen Stärken sich stetig im Kreis drehen, erwartend, dass sie etwas finden können und müssten. Doch möglicherweise ist da nichts, noch nicht. Es braucht eben Resonanz, damit etwas wachsen kann. Und das geht nur im Erleben, dazu braucht es andere Menschen, Gruppen, Teams.
Die Herausforderung ist, Menschen einen Rahmen zu geben, in dem sie sich freiwillig entwickeln können. In dem sie signifikante Andere treffen können. Denn in einer Arbeitswelt, in der menschliche Fähigkeiten immer wichtiger werden, auch und gerade für Mensch-Maschine-Interaktion, ist ein verkümmerter Geist fatal. Und noch fataler wäre es, wenn wir uns nur durch Technik erweitern und die Chance zur Ich-Du-Wir-Verbindung verpassen.
Literatur
- Clark, A. und Chalmers, D. (1998): The extended mind. Analysis 58(1): S. 7–19, online unter http://consc.net/papers/extended.html, letzter Abruf 6.10.2019
- Bauer, J. (2016): Der Beitrag der „Sozialen Neurowissenschaften“ zum Verständnis der Psyche, Vortragsscrip online unter https://www.psychotherapie-wissenschaft.info/index.php/psywis/article/view/272/550, letzter Abruf 6.10.2019
- Hofert, S. (2018): Das Agile Mindset. Heidelberg: SpringerGabler
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