Noise: Das heikle Rauschen in Gruppen und wie Sie es verkleinern

Wie sich Meinungen und Positionen in Gruppen entwickeln, ist oft nicht viel mehr als Zufall. So gibt es einen automatischen Verstärkungseffekt, wenn beispielsweise früh eine Präferenz entsteht. Die Streuung möglicher Urteile ist groß. Das nennt Wirtschaftsnobelpreisträger Daniel Kahneman „Noise“. Wie Sie das Rauschen minimieren.
Gute Songs setzen sich durch? Seien Sie sich nicht so sicher. Es ist der Zufall, der eine Rolle spielt. Dass die italienische Band Maneskin beim Grand Prix vor allem in der Zuschauergunst gewonnen hat, mag schlicht daran liegen, dass der Song bei den Buchmachern vorn lag und dass die Fotos eindrücklich waren. Es kann auch sein, dass nach Monaten der Pandemie Menschen in Gruppen besonders attraktiv sind oder auffallen. Oder dass sich im privaten und beruflichen Kreis zufällige Präferenzen gebildet haben, weil man etwas öfter gehört hat.
Der Soziologe Matthew Salganik untersuchte diesen Effekt für Musik-Downloads neuer und unbekannter Titel unbekannter Bands. Diese hatten 48 Titel wie „I am error“ oder „Bad Mistakes“ zu Auswahl. In der Kontrollgruppe wurden die Teilnehmerinnen nicht beeinflusst. Salganik bildetete aber noch acht weitere Gruppen, in denen die Musikfans sahen, was andere präferierten. Diese jeweiligen Präferenzen beeinflussten die anderen und den Erfolg der Titel stark.
Es war keineswegs so, dass sich immer eine ähnliche Rangfolge bildete, sondern in jeder Gruppe eine andere. In der einen Gruppe konnte „Bad Mistakes“ die Hitliste anführen, in der anderen „I am error“. Die besten Songs, die mithilfe der Kontrollgruppe ermittelt worden war, schafften es allerdings nie bis ganz ans Ende der Skala sowie auch umgekehrt die schlechtesten nie absolute Hits wurden. In der Mitte allerdings gab es eine erhebliche Streuung – so genannten “Noise”. Fazit: Gruppenergebnisse lassen sich leicht manipulieren, weil Erfolg selbstverstärkend ist. Der soziale Einfluss in Gruppen ist also erheblich. Gruppen, die über gleiches entscheiden sollen, treffen höchst unterschiedliche Urteile, die Streuung kann enorm sein.
Noise ergänzt die systematische Verzerrung von Entscheidungen, den Bias. Das Ergebnis ist die Dominanz starker Personen, sichtbarer Urteile wie “Like” oder “Followerzahl” und selbstverstärkender Gruppen.Einflüsse. Beides spielt ineinander und verschlechtert Entscheidungsqualität — mit auch wirtschaftlichen Folgen.
Teamentscheidungen mit Noise
Die Grand-Prix-Organisatoren könnten also darüber nachdenken, wie sie Noise verhindern… Noch wichtiger ist das in Organisationen und Teams. Stellen Sie sich die Einstellung von Mitarbeitenden oder die Wahl von Vorgesetzten vor: Es ist recht wahrscheinlich, dass diese nicht zu einem guten Ergebnis führt. Auch andere Teamentscheidungen sind von Noise betroffen. Agile Methoden wie das Schätzen spielen dagegen. Entscheidungsmethoden wie der konsultative Einzelentscheid wirken ebenso Noise-Reduzierend – wenn der letztendlich Entscheidende sich mit offener Haltung tatsächlich ausführlich und von verschiedenen Expertinnen beraten lässt.
Agile Entscheidungsmethoden
Agile Entscheidungsmethoden sind also oft auch Anti-Noise-Methoden, die leider allzu oft außer Kraft gesetzt werden, weil dieser Aspekt nicht ausreichend verstanden wird. Oder auch, weil diese neue Form von Entscheidungshygiene die Machtverhältnisse in Unternehmen unmittelbar tangiert. Wenn Teams mit statistischen Methoden arbeiten, um Entscheidungen vorzubereiten oder/und künstliche Intelligenz einbeziehen, ist dies ebenso hilfreich.
Wirtschaftsprofessor und Nobelpreisträger Daniel Kahnemann behandelt “Noise” in seinem neuen Buch, das in der Corona-Pandemie zusammen mit dem ehemaligen McKinsey Berater Olivier Sibony und Barack-Obama-Gefährte Cass R. Sundstein entstanden ist. Man kann sagen “dank Corona”, denn in der Pandemie hatten alle mehr Zeit und mussten sich zum Buchschreiben nicht mehr persönlich treffen und zwischen Europa und den USA pendeln.
Menschliche Urteile messen nicht objektiv
Menschen treffen intuitiv und schnell Urteile. Dabei wählen sie aus vielen Fakten jene aus, die ihnen passen. Sie sind kaum in der Lage, viele Variablen zu verbinden – das können multiple Regressionsanalysen besser, die nachweislich auch zu besseren Ergebnissen kommen. Menschen sind im Vorzug bei Dingen, die Computer eher schlecht berechnen können. So sind sie gut bei der kreativen Entfaltung von Ideen in der Schwarmintelligenz. Sie sind auch begabte “Computer-Fütterer”, können also den Rechner mit Algorithmen schlauer machen.
Kahneman kennt verschiedene Arten von „Noise“. In Organisationen sehen wir “System Noise”. Dieses Rauschen ist für die Organisationen wirtschaftlich schädlich. Das Beziehungssystem „Team“ arbeitet allerdings an der Erhaltung von Noise — ist Noise doch auch subtiler Einfluss.
Die Uneinheitlichkeit von Urteilen führt zu höheren Kosten, wenn etwa Schadenssummen höher ausfallen als sie sollten. Gleichzeitig sichert es auch den emotional aufgeladenen Expertenstatus, wenn jemand zu einem Thema eine Position aufgrund seines Fachwissens einnehmen kann – schön zu sehen in der Corona-Pandemie (auch der Like-Dislike-Effekt ist sehr schön abgebildet und sollte uns zu denken geben).
Natürlich beruft man sich dabei auf Fakten, wählt diese aber selbst aus. Details fallen dabei typischerweise unter den Tisch. Der Hinweis, dass eigentlich erst Metaanalysen eine stärkere Aussagekraft haben, wird von vielen Experten erst gar nicht erbracht.
Noise statistisch
Noise ist aus dem Blickwinkel der Statistik die Standardabweichung der Urteile, etwa der Prognosen. Letztendlich bedeutet viel Noise also eine breite Glockenkurve. Sinnvoller wären spitze Glockenkurven mit weniger Streuungen um das arithmetische Mittel.
Nach Kahneman et. al. gibt es drei Arten des Rauschens:
- Occasion Noise:Das ist das situative Rauschen, wenn wir etwas besonders optimistisch einschätzen, weil die Lieblingsfußballmannschaft am Wochenende gewonnen hat oder wir gerade Sex hatten. Weil die Ferien vor der Tür stehen, stellt das Team beispielsweise einen neuen Mitarbeiter ein. Aufgrund guter Stimmung durch einen Small Talk werden die Zahlen im einen Team viel positiver beurteilt als im anderen.
- Pattern Noise:Das sind auch durch Persönlichkeit und persönliche Bewertungen bedingte Rauschmuster. Das eine Team achtet vielleicht besonders darauf, dass die Kollegen bestimmte IT-Zeitschriften lesen, das andere auf ein kommunikatives Wesen. Wertungen spielen hier eine große Rolle.
- Level Noise: Dies beschreibt die Auslegungsstrenge von Regeln, etwa wenn Forscherteams zu komplett unterschiedlichen Einschätzungen kommen. Das moralische und politische Weltbild spielt dabei eine große Rolle.
Was tun gegen „Noise“ in Teams und Gruppen – 7 Tipps:
- Runter vom Mount Stupid der Selbstüberzeugung und zurück zu Sokrates „ich weiß, dass ich nichts weiß“. Wenn diese Haltung in Teams positiver bewertet wird als die Haltung „ich bin Experte und muss das wissen“, ist das schon einmal eine gute Basis.
- Vermeiden Sie frühe Beeinflussung durch bewusst steuernde Präsentationen oder andere Kommunikationstools der alten Welt. Designen Sie Räume für Diskurs, der den Begriff verdient hat. Es sollte also nicht um ein Battle von Argumenten gehen, sondern um das sachliche Gegenüberstellen. Werden Sie auch misstrauisch bei vielen Likes. Und schließen Sie lieber nicht von wenigen Likes auf die Qualität…
- Sorgen Sie für ein möglichst breites Meinungsbild ohne soziale Beeinflussung. Das geht Online sogar besser als Live. Teilnehmerinnen schicken ihre Einschätzungen in Form von Argumentationen oder auch Zahlen zeitgleich in den Chat.
- Fokussieren Sie die nicht-beachteten Fakten durch gute Fragen wie „was sehen wir nicht?“ oder „was sind die Unknown Unknowns“ (also das, was wir heute noch gar nicht wissen können).
- Suchen Sie bei komplexen Themen passende Entscheidungshilfen, etwa die statistische lineare Regressionsanalyse bei Entscheidungen mit mehreren Variablen, die jeweils mit dem zu treffenden Urteil korrelieren (etwa Einstellung von Bewerbern oder Erfolgsschätzung).
- Bei komplizierten Themen die Meinungsbildung kaskadieren. Im ersten Schritt sollte sich jeder selbst ein Bild machen und dabei bewusst auch Pole zwischen den Extremen aufmachen. Dann nach Bestätigung und Widerspruch zu diesen Polen suchen. Das eigene Urteil und die Argumente aufschreiben und erst danach in der Gruppe darüber sprechen. Argumente ro und Contra einfach nur sichten, ohne diese zu bewerten. Sackenlassen vor der endgültigen Entscheidung. Einen weiteren Termin ansetzen mit Vorschlägen. Sich für das derzeit beste Argument entscheiden, zu dem kein besseres vorgebracht werden kann (Konsent).
- Beziehen Sie bei komplizierten und komplexen Themen künstliche Intelligenz mit ein. Machen Sie diese zu Ihrem Teammitglied, indem Sie immer wieder fragen “was könnte KI beitragen”? Je komplexer die Themen, desto wichtiger wird maschinelles Lernen. Wir empfehlen, immer einen Sitz freizuhalten für den kleinen Roboter, der einiges besser kann als wir. Mensch- Maschine-Teams gehört die Zukunft.
Noise Audits
Nobelpreisträger Kahnemann empfiehlt „Noise Audits“ bei denen die Entscheidungen systematisch hinterfragt werden, etwa mit statistischen Methoden.
Wenn man etwa denkt, dass die Bewerberin überdurchschnittlich intelligent sei, weil sie schon mit vier Jahren lesen konnte, solle man diese Entscheidung mit der Wahrscheinlichkeit, dass das wirklich korreliert abgleichen – die typischerweise viel geringer sei als die selbst angenommene. Überhaupt neigen wir zum Überschätzen von statistischen Zusammenhängen und vermuten Korrelationen, wo keine sind.
Sicher, statistische Methoden sind hilfreich.
Zusätzlich lohnt es sich, sich einfach ein paar Grundsätze zu eigen zu machen:
- Entscheiden Sie nicht alleine.
- Bringen Sie Experten mit gegensätzlichen Einschätzungen an einen Tisch.
- Runter vom Mount Stupid (Video hier) — anerkennen Sie die Tatsache, dass Sie nichts wissen.
Mehr Entscheidungshygiene sei dringend geboten, sagen die Autoren. Wir sollten akzeptieren, dass wir Menschen nicht für rationales Denken und logische Entscheidungen gemacht sind. Wir haben auch nie gelernt, wie man allein und in Gruppen entscheidet. Vor allem aber haben wireine Kultur der Rechthaberei entwickelt. In dieser geht es nicht darum, Argumente zu verdichten, sondern um “wer hat recht”.
Beitragsfoto: iStock
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