Was agile Organisationen erstarren lässt – und sie in Bewegung bringt
Die drei Dimensionen der Organisation und des Organisierens

Flache Hierarchien sind kein Garant für die Beweglichkeit einer Organisation. Ebensowenig wie agile Methoden oder Mindset-Initiativen. Es ist viel grundsätzlicher. Es geht um das Organisieren selbst.
Die Geschichte beginnt immer ähnlich: Ein Entscheider besucht einen Kongress oder einen Workshop und kommt inspiriert zurück. Endlich hat er (ja, immer noch meist er) die Lösung für die diffusen Herausforderungen, die die Zukunft von der Vergangenheit unterscheiden sollen, ja diese überhaupt ermöglichen. Die Lösung heißt: Agilität, Selbstorganisation, New Work. Flache Hierarchien, Teams, neue Rollen und der Mensch im Mittelpunkt sollen es richten. In der agilen Wortakrobatik stecken viele Ansatzpunkte.
Psychologie und Systemik wird nicht bedacht
Die Geschichte geht dann auch immer ähnlich weiter: Es funktioniert nicht so, wie man sich das vorgestellt hat. Es ist viel zäher. Meist ist es die Psychologie, die nicht bedacht wurde.
Einige Punkte, die sich unendlich auffüllen ließen.
- Menschen sind keine Maschinen und deshalb nicht auf Ansage zu einem anderen Verhalten motivierbar.
- Menschen denken nicht binär, von Maschinenähnlichkeit keine Spur. (Oder auch: Wenn 1 gilt, kann auch 0 gelten. Hallo Doppelbotschaft.)
- Menschen agieren durch die Systeme, in denen sie sich bewegen und nicht losgelöst davon.
- Führungskräfte sind oft durch andere Interessen getrieben als Mitarbeiter, etwa durch Karrierestreben (so altmodisch das klingt).
- Mitarbeitende in traditionellen Branchen und der Verwaltung sind auch aufgrund ihrer Persönlichkeit dahin gegangen.
- Die Vergangenheit hat den Menschen geprägt und auch seine Sicht auf die Zukunft.
- Man muss mit dem Durchschnitt arbeiten. Und der ist eben oft auch bestenfalls durchschnittlich motiviert.
- Befreite Menschen freuen sich nicht über ihre Befreiung.
Hinzu kommt: Nicht jeder will entscheiden, nicht jeder kann es. Auch Teamarbeit ist kein Selbstläufer. Wenn Führungskräfte jetzt zum Beispiel Coach sein sollen, scheitern sie nicht nur an der Definition, sondern schon daran, dass sie nicht nur Coach sein können.
Die Folge ist, so meine Erfahrung, dass die am wenigsten durchschnittlichen Menschen nach einer agilen Episode das Unternehmen verlassen. Sie werden Berater oder Vortragsredner — da muss man das alles halt nicht direkt umsetzen. Manche akklimatisieren sich auch als Agile Coach.
Das Ende der Geschichte: Agilität abschaffen
Das Ende der Geschichte variiert: Einige schaffen die Agilität, die sie eh nie hatten, direkt wieder ab. Andere werden jetzt mutiger und gehen radikalere Schritte. Und manche erkennen dabei auch wirklich, dass es nicht um Mindset und Menschen geht, sondern um die Art und Weise des Organisierens.
Organisation ist das Ergebnis von Organisieren
Organisieren bedeutet, etwas zu gestalten, damit es seinen Zweck erfüllt. Organisation ist das Ergebnis von Organisieren. Es werden Strukturen geschaffen, die Kommunikationen ordnen, die auch automatisch entstehen würde.
Wenn man Führungskräfte danach fragt, wie ihre Organisation aufgebaut ist, zeichnen sie meist Kästchen auf. Das hat man so gelernt in der BWL. Oben ist jemand mit großem Krönchen und darunter welche mit kleineren. Manche sagen dann dazu, “naja das leben wir aber nicht ganz so.” Und wieso zeichnet ihr das nicht so auf? Das wäre dann die wirkliche Anatomie.
Dass ein Organigramm nicht nur ein ziemlich künstliches, sondern auch ein statisches Gebilde ist, ist noch nicht wirklich angekommen. Dabei sind Organigramme nicht falsch, sie entstehen nur zum falschen Zeitpunkt. Sie müssten am Ende des Prozesses der Organisierens stehen. Und immer wieder erneuert werden können. Man braucht vielleicht auch gar keine Kästchen. Die Frage ist ja, wozu dient die Skizze. Wem soll sie helfen? Das kann da schon etwas fantasievoller sein.
Da nun Ergebnisse nie endgültig sein sollten, ist das laufende Organisieren die eigentliche Organisationsentwicklung. Doch auch die Organisationsentwicklung ist getrieben durch ein statisches Bild: So soll es aussehen. So wurde und wird es ja auch im Studium vermittelt.
Abläufe brauchen ein Zentrum: Den Kunden
Mit der Agilität rückte die Ablauforganisation immer mehr ins Zentrum der Aufmerksamkeit des Organisierens. Die soll sich am Kunden ausrichten, den Wertstrom in den Mittelpunkt stellen. Das jedenfalls ist agiler Kern- und Grundgedanke. Das ist der Punkte, wo die oben skizzierte Geschichte immer wieder nach den passenden Helden sucht. Die Bereitschaft, aus laufendem Geschäft Teams neu zu schneiden und Weichen wirklich nachhaltig zu stellen ist oft geringer. Denn natürlich zieht das alles Irrungen und Wirkungen nach sich und niemand wird sofort zufrieden sein.
Veränderer, die kompromisslos sind, werden erst beliebt, wenn sich alles beruhigt hat. Selbst bei idealer Kommunikation, und die ist selten.
Es ist also eine Sisyphusarbeit, bei der eine starke Persönlichkeit und Kenntnisse der Veränderungspsychologie ganz sicher nicht schaden. Der Kunde steht eben am Anfang nie im Mittelpunkt, manche wissen nicht nicht mal, wer er/sie ist. Martin Pfiffner empfiehlt da zu suchen, wo man auch “Neinsagen” und sich anders entscheiden kann.
Teams befähigen heißt sie gut auszustatten
Teamschnitt wäre einfach, wenn man ein klares Kundenbild hat und zusätzlich im Kopf, dass ein Team als kleine Gruppe besser fünf als neun Leute umfasst. Dann gilt es Teams wirklich zu befähigen, damit sie entscheiden und sich auch selbst verwalten können.
Dass das gelingen kann, ist mir als Telekom-Kundin neulich bewusst geworden. Ich wunderte mich, warum der Service plötzlich so gut und individuell geworden war. Mehrmals half man mir regelrecht unkonventionell und ohne auf die Uhr zu schauen. Die Servicemitarbeiter konnten ganz offensichtlich selbst entscheiden, wie sie mir halfen. Das passt zu einem Bericht, den ich über die Transformation des Kundenservices bei der Telekom gelesen habe.
Die dritte Dimension des Organisierens
Die Aufbauorganisation beschafft uns eine Art Foto als Momentaufnahme der Verantwortlichkeiten im Unternehmen. Die Ablauforganisation hilft, sich am Kunden auszurichten — nach dessen Identifikation im Speckmantel der Bürokratie. Was fehlt ist die Dimension, die oft für das Scheitern mechanistisch geprägter Verwandlungsprozesse ist.
Hier hilft es den Blick auf diese dritte Dimension der Organisierens einzubringen, die der ehemalige Malik-Manager Martin Pfiffner so in seinem sehr empfehlenswerten Buch beschrieben hat. Unter der dritten Dimension versteht er die Neurologie der Organisation. Es geht also um das, was zusammen und am Leben hält. Aber auch das, was zu einem Kollaps führen oder das Zusammenspiel behindern kann. So kann es sein, dass Organisationen sattgefressen und unbeweglich sind oder schlank und sportlich — das wäre ihre Bauweise, ihre Anatomie. Natürlich hängt diese mit der Neurologie zusammen.
Zellen, die sich eigenständig teilen
Alle Dimensionen sind damit eng verbunden und wirken wechsel- und gegenseitig. Klar, ist man zu unbeweglich wirkt das auf die Psyche — und umgekehrt. Da Psychologie und Neurowissenschaften eng miteinander verzahnt sind spielt auch das hier hinein. Und wenn sie auf meine Liste der Gründe für Scheitern schauen, so sind diese immer hier angesiedelt.
Zum Bild von Organisation gehört auch die Idee der Zellen, die sich von selbst teilen können, wenn sie wachsen. So wie aus einem agilen Teams ein weiteres entstehen kann, wenn man wächst. Aber nicht per order de mufti von oben, sondern weil es organisch geht. Das Serviceteam ist zu groß geworden, also teilt es sich kundenorientiert.
Ruhe und Aktivität: Zum Überleben braucht es beides
Im Bild der dritten Organisation liegt weiterhin die Idee von Parasympathikus und Sympathikus, die Ruhe und Aktivität steuern – und einander brauchen. Viele der agilen Initiativen werden im Temporausch geboren – ohne aus dem schon aktiven Hamsterrad auszusteigen.
Doch wer in seiner gewohnte Logik weitermacht wie vorher, wechselt nur ein Etikett gegen das andere. Dieser Schritt würde das bedeuten, was ich in meinem Buch Slowdown benenne, den viele eben scheuen. Die Chance aber ist, dass Wandel nachhaltiger werden kann.
Ein Schritt dahin liegt darin, die Organisation als ein Modell zu verstehen, das eine gemeinsame Grundstruktur hat — wie der Mensch sein Skelett. Alles andere ist individuell: Die Lebensphasen einer Organisation, die Branche, das Segment, die Vergangenheit, die Region, die Erfolge und Misserfolge, die auch die Anatomie geprägt haben.
Mit diesem individuellen Blick lässt sich eine Organisation nur individuell steuern. Das aber würde bedeuten, von allzu holzschnittartigen Copy-Paste-Modellen und Best Practise in Zukunft Abstand zu nehmen.
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Foto: Shvets/pexels.com
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