Gruppendenken: Mit dem Kopf gegen die Wand
Wie Groupthink wirkt, was es begünstigt und was es verhindern hilft

Wie blöd und blind war das denn? Gruppen treffen oft Entscheidungen, die sich erst rückblickend als überaus dumm herausstellen. Das Phänomen ist als Gruppendenken oder Groupthink bekannt. Dabei sorgt das gleiche Phänomen, das problematisches Gruppendenken erzeugt aber auch für produktive Teamarbeit — die Kohäsion. Was macht den Unterschied?
Sehen wir gerade die Folgen von Gruppendenken in Russlands Angriffskrieg? Vieles scheint schlecht geplant zu sein. Die Widerstandsbereitschaft der Ukraine wurde offensichtlich unterschätzt. So ist es bei Gruppendenken immer: Welche Folgen es hat, zeigt sich oft erst in der Rückwärtsbetrachtung. Die Betreffenden selbst werden derweil alles tun, um zu beweisen, doch im Recht zu sein… Und sie werden ihr eigene Dummheit nicht erkennen. Die Aufarbeitung findet oft erst Jahre später statt — und manchmal erst in der nächsten Generation. So war es in Nazideutschland. Auch hier lassen sich zahlreiche Belege für Gruppendenken finden. Es reicht oft allerdings schon ein Blick in das eigene Unternehmen, um Gruppendenken zu entdecken. Da braucht es gar keinen Dieselskandal — der Blick in den Meetingraum lässt uns immer wieder die Haare raufen. Und so werden wir schnell selbst zu Beteiligten. Die es ja immer schon gewusst haben.
Jeder Einzelne hätte es besser gewusst…
Oft ist es nicht die Ahnungslosigkeit einzelner Beteiligter, sondern die Tatsache. dass sich eine Gruppe auf eine gemeinsame Dummheit einigt — nicht selten, obwohl einzelne Beteiligte kommende Schwierigkeiten, ja Ungemach durchaus geahnt haben. Doch “speaking up” wird oft negativ sanktioniert. Manch einem mangelt es an Selbstbewusstsein — die anderen werden es schon wissen. Auch Angst um Karriere spielt eine Rolle.
Doch was sorgt für explosive Verkettungen von falschen Entscheidungen? Eines von vielen historischen Beispielen ist die Invasion in der Schweinebucht. Am 17. April 1961 landeten 1200 Exilkubaner in der “Bay of Pius” und waren binnen drei Tagen verloren und gefangen genommen. Die kubanische Armee unter Castro war viel stärker als gedacht und zudem auf den Angriff vorbereitet gewesen. Die von Kennedy geführte Regierung hatte angenommen, die kubanische Airforce sei ineffektiv und schnell überrumpelt — aller anderslautenden Informationen seitens des Geheimdienst CIA zum Trotz. Castro wurde als ein schwacher Führer betrachtet, der sich nicht wehren würde.
Doch das Gegenteil war der Fall — Castro war nicht schwach, die Kubaner kämpften entschieden gegen die Eindringlinge. Wie konnte das geschehen? Ein Grund war, dass sich CIA und Regierung nicht ausreichend austauschten. Aber nicht der einzige.
Die Zutaten für Gruppendenken sind schnell gefunden: Mangelnde Information, fehlender Austausch, Abschottung gegen andere Informationen und Selbstüberschätzung.
Die zwei Seiten der Gruppenkohäsion
Der Begriff Gruppendenken wurde in den 1970er Jahren vom Psychologen Irving Janis geprägt, der sich dabei am “Neusprech” George Orwells orientierte. Janis sammelte Beispiele für falsche Gruppenentscheidungen und entwickelte daraus 1982 sein Modell des Groupthink. Wissenschaftlich ist dies umstritten. Das Modell basiert wider gängiger Praxis nur auf Beobachtungen, nicht etwa empirischen Forschungen. Im “Labor” wurde es kaum untersucht.
Janis definierte Gruppenkohäsion als entscheidenden Einflussfaktor für Gruppendenken — also das Zusammengehörigkeitsgefühl. Dieses ist aber eben auch für produktive Teamarbeit zuständig. Es wirkt nicht automatisch negativ. Somit hat Gruppenkohäsion eine Sonnen- und eine Schattenseite. Sie erzeugt manchmal ein negatives und manchmal ein positives Ergebnis.
Einflussgrößen auf kollektive Entscheidungsfindung
Janis´ Denkfehler, die Gruppenkohäsion als Ursache zu sehen, suchten Wissenschaftler später zu korrigieren. Einige vermuteten Selbstwirksamkeit, das Streben der Gruppenmitglieder nach Absicherung ihrer Gruppenidentität, die Macht des Führers, die Teamreife, Zeitdruck, bestimmte Gruppennormen, kollektive Ignoranz, die Risikoneigung oder das Streben nach Vermeidung kognitiver Dissonanz in den Mittelpunkt. Vermutlich ist es alles — und Gruppendenken somit nicht nur mit einer Variable erklärbar.
Es spielen verschiedene Faktoren eine Rolle: Die Persönlichkeit der Teilnehmer, kulturelle und soziale Normen, Machtdistanz, die Situation, die Art der kollektiven Entscheidungsfindung, die Vorgeschichte.
Gefährlicher Wunsch nach Einmütigkeit
Außerdem scheint es weniger um das Zusammengehörigkeitsgefühl zu gehen als vielmehr sondern um den Wunsch nach Einmütigkeit. Und hier sehe ich einen ganz entscheidenden Punkt: Während ein Team auf Vielfalt setzt, um erfolgreich zu sein, eliminiert eine von Gruppendenken dominierte Gemeinschaft diese. Das war auch Janis schon bekannt. Concurrence-seeking tendency als Streben nach Einmütigkeit war nach Janis die Moderatorvariable, also der vermittelnde Mechanismus. Aber auch das ist es sicher nicht allein: Auch Teams streben nach Zielen und oft auch gemeinsamen Werten, siehe beispielsweise die agilen Werte.
Doch Werte sind etwas anderes als Normen. Werte sind frei gewählt und aus innerer Überzeugung getragen. Normen sind oft nicht reflektiert — man ordnet sich unter. Die Führungsperson oder deren Clique, vielleicht auch die Mehrheit in demokratischen Umfeldern übt informellen Druck aus, sich der Gruppennorm anzupassen. Diese Gruppennorm wird nicht hinsichtlich der Werthaltungen und eigener Überzeugungen reflektiert und hinterfragt, wie es in einem Teamentwicklungsprozess üblich wäre. Deshalb lässt sich auch festhalten, dass sich Gruppendenken in weniger reifen — also reflektierten — Gruppen vermutlich leichter durchsetzen kann.
Gruppendenken laufend neu bewerten
Anders als bei der Teamarbeit besteht in einer von Gruppendenken geprägten Gruppe kein oder wenig Kontakt nach außen. Experten werden nicht eingeladen — oder eingeladen und nicht gehört. An anderen Meinungen und Sichtweisen besteht kein Interesse. Dennoch ist die Grenze nicht mehr immer leicht zu ziehen.
Denken Sie nur an die Russlandpolitik der letzten Bundesregierung, die bis vor kurzem positiv gesehen wurde. Gerade erfolgt eine historische Neubewertung. Auch hier zeigen sich eben erst rückblickend, wie wenig die eigene Sichtweise hinterfragt wurde. Auch die Coronapolitik dürfte in den nächsten Jahren immer wieder Beispiele liefern, die erst dann eindeutig negativ werden, wenn es erstens handfeste Belege für falsche Annahmen gibt. Und zweitens die gesellschaftlichen Normen es überhaupt zulassen, dass diese überhaupt in den öffentlichen Diskurs kommen können. Hier lässt sich die aktuelle Diskussion über das jüngste Papier des Ethikrats beispielhaft betrachten — das deutlich kritischer daherkommt als seine Stellungnahme in der Hochphase der Pandemie.
Risikofaktoren für Gruppendenken
So hilft es, schon in der Gegenwart aufmerksam zu sein: Die Inzucht von Meinungen entsteht auch in einer Demokratie. Wenn neue, widersprechende Aspekte, beispielsweise von Experten, pauschal abgelehnt oder gar nicht erst gehört werden, ist Gruppendenken nahe. Denn dann kann aus Meinungsvielfalt schnell Einfalt werden.
Janis selbst ordnete Gruppendenken in drei Kategorien ein:
Kategorie 1: Selbstüberschätzung der Gruppe
Die Gruppe hat die Illusion der Unverwundbarkeit und folgt der Überzeugung, moralische Standards zu haben. Sie fühlt sich überlegen oder moralisch im Recht.
Kategorie 2: Geschlossene Ansichten
Die Überzeugung, hohe moralische Standards zu besitzen, führt, wenn diese immer wieder bestätigt wird, fast zwangsläufig zum Irrglauben an die eigene Unfehlbarkeit. Das Kollektiv rationalisiert seine Ansichten, so dass das Denkens geradezu gleichgeschaltet wird.
Kategorie 3: Druck in Richtung Uniformität
Die Norm der Gruppe wird starr und darf nicht hinterfragt werden, Reflexion wird pauschal abgelehnt — zumindest an diesem Punkt. Daraus folgt ein von den anderen Gruppenmitgliedern ausgehender direkter oder indirekter Druck auf Andersdenkende.
Doch noch mehr einzelne Faktoren beeinflussen Gruppendenken. Diese möchte ich in die Bereiche Haltung, Entscheidungsstrukturen und psychologische Mechanismen einteilen.
Bezogen auf Haltung /Einstellung:
- Starke Gruppennormen, die auf Gleich- und Einförmigkeit zielen
- Richtig-/Falsch-Denken
- Besser-/als-Denken
- Vorverurteilungen
- Bewertungen
- Stereotype
- Ideologie
- Eigeninteressen
- Fehlende Kompetenz
- Machtgefälle in der Gruppe
- Ein ähnlicher sozialer und persönlicher Hintergrund
- Zu hohe Machtdistanz
- Autoritätshörigkeit in der Gruppe
Bezogen auf kollektive Entscheidungsstrukturen:
- Unterkomplexe Entscheidungstechniken (z.B. Veto bei einer komplexen Wissensentscheidung)
- Keine Trennung von Information- und Entscheidungsprozess
- Nichtgeteiltes Wissen wird nicht sichtbar gemacht
- Unterschiedliche Redeanteile
- Zu wenig Zeit zur Vorbereitung eigener Positionen
Bezogen auf psychologische Muster:
- Selbstbestätigungstendenz
- Kein Bewusstsein für eigene Psychologie
- Niedriger Selbstwert durch vergangene Misserfolge
- Tendenz zu Extremen (Entscheidungen werden extremer gefällt als bei einer Einzelbefragung)
- Psychologische Kaskadeneffekte: Einer sagt zuerst was, die anderen legen die bisherigen Bedenken ad acta, „der wird schon recht haben.“
Geheime psychologische Muster
Urteilsheuristiken und Biasse wurden erst in den Jahren nach Janis untersucht. Immer neue Effekte wurden entdeckt, die unsere Rationalität doch stark in Frage stellen. Einen psychologischer Effekt möchte ich noch besonders hervorheben: Die gegenseitige Beeinflussung einfach durch die Reihenfolge der Meinungsäußerung.
Der Harvard Business Manager zitierte vor einigen Jahre eine Studie der Universität Princeton von Matthew Salganik, Peter Dodds und Duncan Watts namens “Experimental Study of Inequality and Unpredictability in an Artificial Cultural Market”. Diese können sie hier im Orginaltext lesen.
Die Wissenschaftler forderten Versuchspersonen auf, mindestens einen von 72 Songs herunterzuladen. Die Gruppe wurde geteilt: Die eine Hälfte wusste nicht, was die anderen runterluden; die andere sah die Wahl ihres Vorgängers. Dabei stellte sich heraus, dass diejenigen die zuerst ausgewählt wurden, schnell nach oben schnellten… nicht weil sie gut waren, sondern weil einer zuerst auf den Titel gesetzt hatte. Ganz schlechte Titel konnten sich so nicht durchsetzen, aber mittlere Titel hatten beste Chancen.
Eigene Muster erkennen
Das lässt sich womöglich auch auf die Meinungsbildung übertragen. Eine Hypothese könnte lauten: Nicht die beste Meinung setzt sich durch, sondern die, auf die zuerst gesetzt wurde.
Menschen, die wissen, wie ihr eigenes Gehirn funktioniert, welchen Denkabkürzungen und Fallstricken — Heuristiken und Biassen — sie also unterliegen, können sich selbst „objektiver“ betrachten und besser gegensteuern. Dieses Thema ist zum Beispiel Inhalt in unserem Basiskurs TeamworksPlus, zu dem Sie ab März hier mehr erfahren. Bis dahin abonnieren Sie doch schon mal unseren Newsletter (unten im grünen Bereich).
Wie Sie Gruppendenken vermeiden
Verabreichen Sie der Gruppe die folgenden 13 Gegenmittel:
- Umfassende Informationssuche
- enaue Prüfung der Fakten, inklusive Befragung von mehreren Experten mit unterschiedlichen Einschätzungen
- Jeden an der Entscheidung beteiligen
- Ersten Impuls aufschreiben und dann erst diskutieren
- Trennung von Informations- und Entscheidungsprozess
- Einbeziehung von Gegenbeweisen und Gegenpositionen
- Sich selbst und die eigene Meinung offensiv hinterfragen
- Gruppennormen sichtbar machen und reflektieren
- Zulassen von vorläufigen “gut-genug-Entscheidungen”
- Ausführliche Risikoprüfung der präferierten Entscheidung
- Regelmäßige Neubewertung von Vorgehensweisen und Alternativen
- Detaillierte Ausarbeitung von stringenten Handlungsplänen
- Retrospektive der Entscheidungsprozesse
Fotos: Dreamstime (Witz), Shutterstock (Teddy)
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