Online-Videokonferenzen: Die neuen Zeichen der Macht
…und wie man sie deutet

Nicht nur Top-Management-Meetings, auch Ministerpräsidentenkonferenzen finden vermehrt online statt. Wie verändern Videokacheln und Breakoutsessions in Online-Videokonferenzen Machtverhältnisse? Woran erkennt man Online-Macht – und Ohnmacht? Und wie brüllen Alphatier-Löwen, wenn keiner erkennt, dass sie welche sind?
Bodo Ramelow spricht es offen aus. Mehr als sechs Stunden sei er auf der Ministerpräsidentenkonferenz abgeschaltet gewesen. Er wusste nicht, was und wie ihm geschah. Aus lauter Langeweile setzte er seinen berühmten ÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄ-Tweet ab, dem er laut Eigenaussage demnächst Ü´s folgen lassen will. Der Typ hat Humor.
Online-Dynamiken treiben skurrile Blüten
Die öffentlich gewordenen Einblicke in die Videokonferenzen der Ministerpräsidenten zeigt, was auch woanders zunehmend zum Thema wird. Die Gruppendynamik in Videokonferenzen ist eine andere als in Präsenz. Sie treibt skurrile Blüten. Wer hat noch nicht erlebt, wie ein zweifelhafter Witz plötzlich im Chat bei „alle“ landete anstatt beim Adressaten.
Die 4. Dimension heißt Präsenz
Betrachtet man die Dimensionen der Gruppendynamik und den gruppendynamischen Raum, so ist dieser zum Hyperwürfel der Komplexität gewachsen. Welche Rolle die 4. Dimension „Präsenz“, repräsentiert durch die Pole „Hier und Jetzt“ versus „Jetzt“, wirklich spielt, wird uns allen erst langsam bewusst. Denn Raum ist eben nicht nur ein Raum: Er schafft auch einen gemeinsamen Kontext und gemeinsame Kontexterinnerungen. Der fehlt, wenn etwas in einer Videokonferenz stattfindet. Jeder bleibt dann ganz bei sich, im eigenen Raum. Setzt Tweets ab oder zeigt dem Ehepartner die „Pappnasen“ in den Kacheln.
Gemeinsame Absichten werden durch Raumerfahrungen begünstigt
Zuhause im Home Office bleiben genießen einige sehr. Endlich keine Kollegen mehr, Konflikten kann man leichter ausweichen. Aber was, wenn dadurch die gemeinsamen Absichten nicht mehr durch die Bündelung des Machtgefüges im Raum transformiert werden? Es ist eben leichter zuhause abzuschalten, auch wenn man immer noch online ist.
Die bisherigen Methoden der Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung nicht nur von Ministerpräsidentenkonferenzen, sondern generell von Meetings und Sitzungen, funktionieren nicht mehr. Es passiert, was stets passiert, wenn die bisherigen Lösungen an Grenzen kommen: Die Lösungen offenbaren ihre Schwächen. Was herauskommt, wirkt primitiv, unterkomplex und wie aus der Zeit gefallen.
In Präsenz zählt das Nonverbale, Online das Verbale
In Präsenz-Meetings ist oft nicht entscheidend, was besprochen wird, sondern wie: Wer hat wie und wen angeblickt? Wem sollte man sich anschließen? Das sagte einem früher allein schon der Körperabstand zueinander. Das kollektive Organisationsgedächtnis hat diese Informationen natürlich abgespeichert, doch wie wirkt das auf neue Mitarbeiter, etwa solche die seit dem Onboarding Online sind? Und wie verändert Online die Verhältnisse?
Was geschieht mit uns, wenn es keinen echten Blickkontakt gibt, wenn die kleinen Zeichen fehlen oder diese in den Kacheln nicht mehr wirklich gedeutet werden können? Könnte es sein, dass dann der Redeanteil zum dominierenden Machtfaktor wird?
Die nonverbale Kälte, die eine autoritäre Macht walten lassen kann, um Missliebigkeit auszudrücken, muss sich nun einen anderen Weg bahnen. Eine Möglichkeit ist der offene oder verdeckte Rausschmiss aus der Leitung. Eine andere einfaches Abschalten.
Welche Sprache nutzt die Macht Online? Einige Beispiele:
- Der schwarze Bildschirm, wenn alle anderen Kameras eingeschaltet sind. Nur einer hört zu.
- Der eine eingeschaltete Bildschirm, wenn alle anderen aus sind. Nur einer ist sichtbar.
- Das verspätete Reinplatzen in ein Meeting und das verfrühte Rausgehen. Sagt z.B. „für mich gelten eure Regeln nicht“.
- Der besonders geringe oder besonders hohe Redeanteil. Drückt aus: Hört mir zu (in die eine und andere Richtung).
- Der Griff zum Telefon, bei dem man sich mit denen abstimmt, die wichtiger sind als andere – zeigt, dass man eben nicht gleich ist trotz prozentualen Gleichgewicht auf der Videokachel.
- Der Rauswurf aus der Leitung – absichtlich oder als Versehen getarnt.
- Das Stummschalten von oben….
- Der private Chat, in dem man sich mit Großbuchstaben anschreit oder sich über jemand lustig macht.
- Die wütende Drohung auf Whatsapp an eine, z.B. die gerade nicht im eigenen Sinn redende Person.
- …Und vieles andere mehr
Das Spiel zwischen Alpha und Omega (Rangdynamik) wird subtiler — und irgendwie fantasievoller. Die anderen sehen die entwürdigenden Gesten ja nicht…
Pappnase für den Chef
Ungestraft kann so jeder die unliebsam „Mächtigen“ entkleiden, etwa indem man sich ein Foto mit Pappnase neben die Webkamera klebt – zur eigenen Entspannung, wenn Dr. Meyer wieder mit seinen Reden nervt.
Hat man Angst oder Respekt? Lacht man sich tot oder macht man jemand lächerlich? Im gemeinsamen Raum ist das alles gezügelt durch die Blicke der anderen.
In Präsenz tötet der Mundwinkel der Verachtung. Da dieser Online nicht eindeutig erkennbar ist, sind es hier die Kurznachrichten.
In einem echten Raum „führt“ allein schon die Sitzordnung. Durch Abstand und Position im Raum ist erkennbar, wer die formelle Leitung innehat. Auch das Verhalten der anderen kennzeichnet in Präsenz die Einflussreichen: In bestimmten Situationen geht die Tür zu, kommt jemand von „ganz oben“ zu Besuch. Man beobachtet Szenen, die zeigen, wie Machtverhältnisse sind. Da halten sich die Kollegen weit entfernt vom Schreibtisch. Man tuschelt in der Küche. Bei einer Begegnung auf dem Flur verändert sich die Stimme. Ein Blick reicht, um ein Verhalten auszulösen…
Entfernung befeuert die Fantasie
In einem virtuellen Setting fehlen die meisten Informationen, die nonverbal Aufschluss über Machtverhältnisse geben. Dafür sind die Personen noch mehr mit dem aufgeladen, was ihre Rolle schon vorher ausmachte. Narrative verstärken sich, Identitäten sind noch mehr durch Fantasie ausgefüllt, je weniger oft man sie sieht…
Das ist also der berüchtigte Herr X, die besagte Frau Y…. In der Kachel sind beide auf Zentimetergröße gestaucht, ihnen fehlt die Wirkung, die sie in Präsenz haben könnten und die manch relativierende Information bieten könnte.
Dadurch kann neue Macht entstehen, aber alte auch verschwinden, frei nach dem Motto: „Aus den Augen, aus dem Sinn“. Zugleich können sich Machtverhältnisse verändern, etwa dadurch, dass die Kachel einer Person mehr leuchtet als die einer anderen.
Ein Traum für kleine Leute
Selbst Körpergröße wird so kompensiert. Der „kleine Mann“, gerüchteweise oft nach Größe strebend, ist im Video genauso groß wie sein 1,90-Kollege… Projektionen verändern sich auch deshalb. Sie beziehen sich nicht mehr so stark auf das menschliche Erscheinungsbild, sondern auf das Bild in der Kachel. Kindergarten-Kind im Hintergrund, Löwe als Schreibtischaccessoire oder ein teures Gemälde? Die Verbindung mit der Umgebung wird damit zum eigentlichen Machtfaktor…
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