Psychologie und Agilität: Warum das gut zusammenpasst

Manchmal braucht man Umwege, um auf den richtigen Weg zu kommen. Agiles Arbeiten ist durch seine Entstehungsgeschichte zunächst eng mit Informatik und Naturwissenschaft verbunden. Psychologie scheint da wie ein Fremdkörper. Doch produktive Zusammenarbeit ist kein Selbstläufer — und die Organisation guter Zusammenarbeit braucht psychologisches Know-how. 5 Gründe, warum das so ist und wie man beides zusammenbringt.
Immer mehr Scrum Master und agile Coaches sind Psychologen, Wirtschaftspsychologen, Pädagogen oder auf anderem Weg in der Organisationsentwicklung erfahren. Gerade in den letzten Jahren und erst recht in der beschleunigenden Coronapandemie haben viele gemerkt: Für gute Zusammenarbeit gibt es keine Kochrezepte.
Befindlichkeiten schlagen erst auf den Magen und dann auf die Leistung. Da werden dann Meinungsverschiedenheiten persönlich oder Cliquen zum Problem. Wer das nicht auffängt und frühzeitig die Elefanten im Raum benennt, hat ziemlich schnell einen ausgewachsenen Konflikt. Unseren Beitrag über Konflikte im agilen Umfeld lesen Sie hier.
Der Podcast„Mein Scrum ist kaputt“ hat das Thema gerade aufgegriffen. Schließlich kann nicht nur die Methode, sondern auch die Beziehung kaputt sein (oder kurz davor). Das in der Folge über Psychologen als Scrum Master vorgestellte Startup „Cosee“ stellt laut Eigenaussage nur noch Psychologen mit Informatikkenntnissen als Scrum Master ein. Zugrunde liegt gute Erfahrung und die Überzeugung von Geschäftsführer Patrick Wolf.
Doch warum ist die so völlig „andere“ Perspektive für Zusammenarbeit nicht nur in der Informatik so hilfreich?
5 Gründe, die für Psychologen und Pädagogen sprechen und auch Naturwissenschaftlern und Betriebswirten einleuchten:
1. Entwicklung braucht psychologische Agilität
Psychisch gesunde Menschen können trotz normaler “blinder Flecken” über sich selbst und das Team reflektieren. Sie sind nicht fusioniert mit Vorstellungen wie etwas sein soll oder von Status und Ideen der Vergangenheit. Sie sind anpassungsfähig — emotional agil. Der Begriff “emotional Agility” wurde von der US-Psychologin Susan David geprägt. Über emotionale Agilität habe ich vor einem Jahr in meinem persönlichen Blog hier geschrieben.
Das ist ein Gegensatz zu psychologisch „rigiden“ Menschen, die sich beispielsweise selbst nicht im Kontext von Situationen und als (Entstehungs-) Prozess sehen können. Psychologisch „rigide“ ist man sich weder eigener Werte bewusst, noch kann man sich selbst als beeinflusst durch viele und wechselnde Variablen wahrnehmen.
Natürlich ist man selten nur agil oder nur rigide. Da man aber nur denken kann, was man denkt und fühlen, was man fühlt, hilft das gemeinsame Reflektieren geschlossene Fenster auf sich selbst und die Zusammenarbeit zu öffnen. Wer sich etwa Verhaltensmuster und deren emotionale Verbindungen zu früheren Erfahrungen deutlich macht, kann dazu Abstand gewinnen und auch Muster entlernen. Abstand ist notwendig, um auch scheinbar nur fachliche oder sachliche Themen von außen betrachten zu können. Die richtigen Fragen dazu öffnen Perspektiven und helfen, sich auf Neues einzustellen. Dazu braucht es im übertragenen und direkten Sinn Räume, die psychologisch erfahrene Menschen eher öffnen und auch halten können. Und man braucht “Umwege”, denn der Zugang zu Themen braucht bisweilen einen Abstecher in ganz andere Gebiete. Agiles Arbeiten zwischen “Action” und “Reflexion” lässt sich so wirksamer gestalten.
2. Zusammenarbeit ist pure Psychologie
Zusammenarbeit entsteht spontan, wenn Menschen sich finden, die gemeinsam etwas erreichen wollen. Es bilden sich fast von selbst Strukturen aus – einfach weil das gemeinsame Ziel Orientierung gibt, man gemeinsam etwas auf die Beine stellen will. In Unternehmen gibt es diese Form spontaner Zusammenarbeit nicht, diese ist in aller Regel “von oben” organisiert. Oft ist es dann schwer, ein für alle gleichermaßen attraktives Ziel zu finden. Hinzu kommt, dass sowohl die spontane als auch die organisierte Zusammenarbeit Minenfelder bergen, etwa durch eine zu hohe oder zu geringe Bindung an das Ziel.
Beispiel Cliquenbildung: Durch Übungen und immer neue Zusammenstellung lässt sich verhindern, dass sich immer nur dieselben Kollegen zusammenfinden. Man stärkt zum Beispiel bewusst “weak ties”, also schwache Verbunden, um Kreativität zu erhöhen. Zudem gilt es zu starke Bindungen zu verhindern, durch die Cliquen entstehen. Hier unser Beitrag über Online-Cliquen.
In Teams geht es zudem immer auch um mehrere Formen von individueller und gemeinsamer Selbstwirksamkeit. Das Wissen darum ermöglicht es, Kommunikationsarchitekturen zu bauen, die auf die Realisierung von Vorhaben einzahlen. Dieses Wissen wird in den Naturwissenschaften, der Informatik und auch der BWL gewöhnlich nicht vermittelt.
Das alles braucht das Bewusstsein dafür, was passieren und was helfen kann.
3. Sich verändern ist zutiefst emotional
Veränderung passiert laufend, aber in bestimmten Branchen und Bereichen besonders schnell. Sich immer wieder neu einzustellen, hat weniger eine inhaltliche als vielmehr eine menschliche Komponente. Das funktioniert nur, wenn man selbst eine Durchlässigkeit hat, sich und seine Grundannahmen über Gott, die Welt und sich selbst auch laufend aktualisiert.
Psychologisch vorgebildete Menschen wissen, dass die Veränderung immer in einem Kontrast verschiedener und nicht selten widersprüchlicher Emotionen entsteht. Dabei spielt auch die persönliche Entwicklung eine Rolle, die nicht beliebig, sondern nach bestimmten entwicklungspsychologischen Mustern erfolgt. Es hilft diese zu kennen, um passende Anreize zu setzen. Gleichzeitig braucht es den Blick für Entwicklungslinien: Da gibt es die rein sprachliche Entwicklung und die emotionale. Beide können auseinanderklaffen, was sich meist weniger in Kommunikationen als vielmehr in (Nicht-)Handlungen zeigt. Ist Sprache nicht zugleich verkörpert, findet sie also keine emotionale “Abbildung”, klingen Worte nicht nur hohl, Handlungen sind voller Widersprüche. Deshalb ist im Coaching “Embodiment” so wichtig, andernfalls bleibt alles auf einer rein kognitiven Ebene — und ist weniger nachhaltig.
4. Lernen ist Spielen – und Psychologen sind Lernbegleiter
Wir lernen, indem wir etwas spielen, was wir bisher noch nicht gespielt haben — oder etwas anders spielen als bisher. Diese neuen und adaptiven Spiele kommen nicht aus dem Computer, sondern dem Leben. In Organisationen werden oft Laborumgebungen geschaffen, in denen Spiele stattfinden, die so aber nicht in den Alltag übertragbar sind. So kann der Schwung aus dem Event nicht eins zu eins in Routinen übersetzt werden. Dazu braucht es die Kenntnis von Faktoren, die Umsetzungsprozesse wirksam machen.
Dabei helfen professionelle “Schubladen”, die psychologisch ausgebildete Menschen von der Oberfläche in die Tiefe spielen können. “Schubladen” sind in unserer Definition auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhende Modelle, aus denen sich Methoden und Tools ableiten. Schubladen sollten offen bleiben — es geht darum zu ordnen und zu strukturieren — nicht darum, andere reinzustecken. Auch das gelingt besser, wenn man einige Jahre professioneller Selbsterfahrung mit Super-und Intervision mitbringt.
Dabei sollte man sich erstens klar sein „A model is a lie, which helps to find the truth”. Und zweitens: Wer unterschiedliche Modelle kennt, kann leichter unterschiedliche Wahrheiten erkennen. Für Perspektivenvielfalt ist das besser. Außerdem lässt sich so eher abwägen, was gerade passt.
5. Fühlen will gelernt sein
Mit dem Denken ist es für die meisten Menschen kein Problem. Aber: Handlungen werden durch Fühlen ermöglicht und so macht es einen großen Unterschied, ob man nur Gedanken produziert und verbalisiert — oder auch eine körperliche Beziehung zu ihnen herstellen kann.
Viele auf den ersten Blick und im Selbstbild rationale Menschen haben keinen Bezug zu ihrer eigenen Angst vor Veränderung durch den Verlust von Beziehung, Status, Identität, Autonomie und Einfluss, etwa bei der Einführung neuer Prozesse und Vorgehensweisen. Dadurch erkennen sie diese auch nicht in anderen, sehen sie gar nicht als Faktor. Auf diesem Boden des Widerspruchs von Ratio und Emotionen wachsen „rosa Elefanten“ und Konflikte. Diese zu sehen und angemessen anzusprechen erfordert Wahrnehmung und ein Gefühl für Stimmungen.
Auch im Umgang mit psychologisch labilen Menschen besteht viel Unsicherheit in Umfeldern, die durch intensive Zusammenarbeit geprägt sind, in dem der psychologische Blickwinkel aber fehlt. Die derzeitigen Umbrüche in der Industrie und die Folgen der Coronapandemie etwa haben erhebliche psychologische Kollatoralschäden, die sich durch Ausblenden eher noch verstärken.
Psychologisch erfahrene Menschen können da erheblichen Mehrwert stiften, sei es in der Rolle als Scrum Master, Coach oder auch in einer people-bezogenen anderen Führungsrolle.
- Zum Beitrag hat mich die Folge “Psychologen als Scrum Master” von “Mein Scrum ist kaputt angeregt
- In unseren Ausbildungen legen wir viel Wert auf den professionellen Umgang mit professionellen “Schubladen”, allen voran bei TeamworksPLUS.
- Psychologisches Grundwissen vermitteln wir mit “Psychologie der Veränderung”
- Wenn Sie mehr erfahren wollen: Am 14.10. findet ein kostenloses Webinar zum Thema statt. Einladungen erhalten unsere Newsletter-Abonnenten.
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